Obdachloser auf Mariahilferstrasse in Wien
Die Maßnahmen des Wiener Winterpakets richten sich primär an Menschen, die sonst keinen Anspruch auf Angebote wie Wohnungslosenhilfe haben.
© Christian Fischer

Die erste Maiwoche ist in Rafael Kirchtags Kalender fett markiert. Jedes Jahr in dieser Zeit versammeln sich verlässlich lange Menschenschlangen vor den Unterkünften der Wiener Vinzi-Werke, die Kirchtag leitet. Denn viele andere Notquartiere schließen Anfang Mai wieder für ein halbes Jahr ihre Pforten: Sie werden stets ab November im Rahmen des sogenannten Winterpakets vom stadteigenen Fonds Soziales Wien (FSW) organisiert, um Wohnungslose vor dem nächtlichen Kältetod zu bewahren. Von den tausend Notschlafplätzen, die im vergangenen Winter mit einer Auslastung von rund 90 Prozent bereitstanden, bleiben für die wärmeren Monate nur rund 270 übrig.

Das von der Stadt mit knapp 15 Millionen Euro dotierte Winterpaket ist primär für jene Menschen gedacht, die sonst keinen Zugang zu den öffentlichen Angebote der Wohnungslosenhilfe – etwa zu betreuten Wohnungen – haben. Es handelt sich um Personen, die keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzen und nicht lange genug offiziell hierzulande gearbeitet haben, um Anspruch auf Sozialleistungen geltend machen zu können. Der Großteil von ihnen stammt aus osteuropäischen EU-Ländern: Manche reisen auf der Suche nach Arbeit in der EU hin und her und nutzen die städtischen Notquartiere nur kurzfristig, andere leben schon seit Jahren unter prekären Bedingungen permanent in Wien.

Schwierige Entscheidung

Wenn das Winterpaket ausläuft, fällt für diese Gruppe eine wichtige Schlafoption weg, zumal es auch nach April während einer Nacht im Freien noch frostig sein kann. Die Vinzi-Häuser, die vorwiegend durch Spenden finanziert und von Ehrenamtlichen betreut werden, bieten allerdings das ganze Jahr über eine Basisversorgung samt Schlafstellen für Obdachlose an – egal, ob sie über sozialrechtliche Ansprüche verfügen oder nicht.

Das spricht sich schnell herum und führt im Mai zu mehr Andrang, als das Vinzi-Team bewältigen kann: "Wir sind jetzt schon fast voll und wissen, dass wir trotz eingeschobener Notbetten zu wenig Platz haben, um alle unterzubringen", sagt Rafael Kirchtag. Gerade für eine Institution, die sich dem Ziel verschrieben hat, dass niemand auf der Straße landen darf, sei diese Situation äußerst herausfordernd: "Die Ehrenamtlichen müssen die schwierige Entscheidung treffen, wen wir noch aufnehmen können und wen wir wegschicken müssen."

Man könne den Abgewiesenen nicht einmal eine klare Alternativoption mit auf den Weg geben, bedauert Kirchtag. Obwohl manche Obdachlose in den warmen Monaten die Übernachtung im Freien bevorzugen, seien die eigenen Kapazitäten der Notschlafstellen selbst dann am Anschlag.

Durchgeschwitzte Schuhe

Es wäre ohnehin trügerisch zu glauben, dass der Sommer für Obdachlose, die oft ihr gesamtes Hab und Gut mitschleppen, große Erleichterung bringt. Die zunehmenden Hitzeperioden verschlimmern die labile gesundheitliche Verfassung, mit denen viele von ihnen kämpfen.

"Wenn der Asphalt 50 bis 60 Grad hat, ist das für das Herz-Kreislauf-System ein großes Problem", erklärt Hans Wögerbauer. Der pensionierte Arzt ist als Straßenmediziner in Wien beim Verein Med4hope engagiert und kennt die Tücken des Sommers von zahlreichen Einsätzen, zu denen er von aufmerksamen Streetworkern gerufen wird. "Ich sehe dann Menschen, die den ganzen Tag im Freien sitzen und völlig ausgetrocknet sind. Die Schuhe sind nach wochenlangem Tragen durchgeschwitzt, Entzündungen in den Beinen breiten sich bei Hitze schneller aus."

Wien habe im internationalen Vergleich ein hervorragend dichtes Betreuungsnetz für Obdachlose, betont Wögerbauer. Dennoch gebe es einige Hundert Personen, die mit schweren Erkrankungen im öffentlichen Raum lebten, nicht krankenversichert seien und die sich mitunter aus Scham keine Hilfe holten. Sobald das Winterpaket wegfalle, zeige sich deren Bedarf umso dringlicher.

Der Straßenmediziner Hans Wögerbauer kümmert sich um Wohnungslose mit gesundheitlichen Problemen.
Antonia Wagner

Der Fonds Soziales Wien versucht gegenzusteuern: Klimatisierte Tageszentren für Wohnungslose stehen untertags als kühle Rückzugsmöglichkeit kostenlos offen, die Straßensozialarbeiter sind auf ihren Rundgängen mit Getränken ausgestattet.

Die aktivistische "Initiative Sommerpaket", die für kommenden Freitag zu einer Demo auf den Wiener Rathausplatz aufgerufen hat, gehen diese Maßnahmen nicht weit genug. Wie der Name besagt, fordert die Gruppe, dass die im Winter geschaffenen Notschlafstellen auch im Sommer bestehen bleiben. Die Schließung der nächtlichen Quartiere setzte die Betroffenen dem Risiko gewalttätiger Übergriffe auf der Straße aus, für Frauen sei das besonders gefährlich: Wenn sie auf die Couch von Bekannten flüchten, kann das erst recht in gefährlichen Abhängigkeiten münden. Auch die Grünen haben kürzlich im Gemeinderat beantragt, aus dem Winterpaket ein dauerhaftes Angebot zu machen.

Notquartiere nicht verfestigen

Markus Hollendohner, der beim FSW die Wiener Wohnungslosenhilfe leitet, nennt jedoch Gründe gegen eine ganzjährige Aufrechterhaltung sämtlicher Kapazitäten des Winterpakets. Es handle sich um humanitäre Maßnahmen, die als Notlösungen bewusst nur befristet sind. "Wir wissen, dass die dauerhafte Nutzung von Notquartieren eher dazu führt, dass Obdachlosigkeit verfestigt wird."

Der FSW forciert lieber die sogenannten Chancenhäuser, von denen es in Wien aktuell acht mit insgesamt 600 Plätzen gibt – ein neuntes Haus soll demnächst eröffnet werden. In Chancenhäusern können Wohnungslose vorübergehend Unterschlupf finden und erhalten eine niederschwellige Beratung über ihre Perspektiven. Sozialarbeiterinnen helfen ihnen beim Beschaffen und Ausfüllen der Dokumente, die für weiterführende Wohnformen – vorrangig mit dem Housing-First-Ansatz – oder für Jobbewerbungen nötig sind. Es gehöre aber auch dazu, jene Menschen aufzuklären, für die es in Wien im Einklang mit den EU-Vorgaben keine sozialrechtlichen Ansprüche gebe, erklärt Hollendohner. Um sie bei der Ausreise in ihre Herkunftsländer zu unterstützen, bietet die Caritas eine Sozial- und Rückkehrberatung an.

Europäische Frage

Die vielfach beschworene Beseitigung von Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030 könne letztlich nur durch Koordination auf europäischer Ebene gelingen, sagt Hollendohner vom FSW. Derzeit dürfen Menschen zwar frei innerhalb der EU reisen, die Herkunftsländer fühlen sich aber nicht zuständig, wenn ihre Bürger anderswo ohne Dach über dem Kopf leben.

Länder wie Ungarn nutzen das bewusst aus, wie Hollendohner kritisiert: Dort wird Obdachlosigkeit seit einigen Jahren kriminalisiert, somit zieht es viele Betroffene ins nahegelegene Wien. Insgesamt halten sich in der Bundeshauptstadt mehr als die Hälfte aller in Österreich lebenden Wohnungslosen auf. "Wien spielt in Europa eine Vorreiterrolle bei der Unterstützung von Wohnungslosen. Aber eine Stadt allein kann die Herausforderungen einfach nicht stemmen." (Theo Anders, 2.5.2024)