Der Bahnsteig von Hallstatt wirkt wie eine Visitenkarte aus dem Copyshop, auf die jemand in der Schriftart Comic Sans "Weltkulturerbe" drucken ließ. Also irgendwie halbcharmant zusammengeflickt und nur aus einem Grund passend: Auch die Europäische Kulturhauptstadt in Österreich wurde heuer rund um Bad Ischl zusammengestoppelt – aus ziemlich vielen Orten und Landschaften einer Region.

Quasi im touristischen Widerstand

Wer den Zug an dieser Haltestelle verlässt, steigt mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit danach ins Boot. Denn auf dieser Seite des Sees will interessanterweise niemand bleiben. Also bringt die MS Ste­fanie 365 Tage im Jahr, 18-mal täglich Menschen vom Bahnhof in das Epizentrum heimischer Insta­grammability. Nicht erst seit der Intercity 1018 aus Wien wieder direkt ins Salzkammergut fährt. Alle wollen per Schiff nur möglichst schnell ans andere Ufer für ein paar Selfies im Ortskern mit dem Hashtag "Hallstatt". Dort können auch sie ihren Beitrag zu einem vieldiskutierten Alltagsphänomen leisten: Overtourism.

Ein Blick auf den Hallstätter See von Süden nach Norden mit Hallstatt auf der linken Seite.
So schön ruhig: Ein Blick auf den Hallstätter See von Süden nach Norden mit Hallstatt auf der linken Seite.
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Wer dagegen zu dem gefühlt einen Prozent der Menschheit gehört, das am Bahnsteig in die andere Richtung geht, ist quasi im touristischen Widerstand. Denn schon hinter der nächsten Kurve spaziert man meist mutterseelenallein am Ostufer des Sees dahin. Der Ausblick vom bequem zu gehenden Weg in der kahlen Steilwand auf das kalte graue Wasser ist herrlich, selbst Hallstatt wirkt von hier aus wie ein idyllisches Fischerdörfchen.

Nach gut einer Dreiviertelstunde ist die Seeraunzn, ein beliebtes Ausflugslokal, erreicht. Doch in diesen ersten Wintertagen des neuen Jahres ist es anders als der Ortskern von Hallstatt nicht nur nicht überfüllt, sondern komplett verwaist. Voraussichtlich bis zum Frühjahr muss das Gasthaus geschlossen bleiben. Es ist wenig los und mangelt wie überall anders auch im Tourismus an Personal. Doch wie kann das sein? Auf der einen Seeseite ist ein kleiner Ortskern zeitweise so überfüllt, dass die verbliebenen Anrainer regelmäßig verzweifeln, auf der anderen Seite schafft es nicht einmal das einzige Gasthaus weit und breit, offen zu halten?

Kritische Aufarbeitung

Selten zuvor im Reigen der Kulturhauptstädte war die Auseinandersetzung mit Tourismus so spürbar in das Programm eingeschrieben wie dieses Jahr bei "Salzkammergut 2024". Kein Wunder bei teilnehmenden Orten wie Bad Ischl oder eben Hallstatt, die wohl kaum zusätzliche Werbung benötigen, um Touristen anzulocken, sondern zumindest auch eine Art kritische Aufarbeitung.

Elisabeth Schweeger, die künstlerische Direktorin von "Salzkammergut 2024", stellt klar, es könne nicht darum gehen, den Tourismus zu schwächen oder gar abzuschaffen in einer Region, die von diesem Wirtschaftszweig lebt. Er müsse aber neu gedacht und aufgestellt werden, etwa durch eine Stärkung der Nebensaisonen, für die es mehr Angebote brauche. Auch macht sich Schweeger für eine neue Langsamkeit beim Reisen stark, die darauf abzielt, nicht nur wenige Stunden an den immerselben Orten zu verbringen, was wiederum diesen Orten nichts bringt.

Die Kultur des Teilens

"Sharing Salzkammergut" lautet ein Slogan der Kulturhauptstadt. Unter einer Kultur des Teilens in Bezug auf Tourismus versteht die Direktorin, dass Tourismus stärker als Austauschprogramm gesehen wird, als Dialog. "Es geht auch hier darum, voneinander zu lernen. Fremde kommen her und erfahren etwas, das ihnen nicht bekannt ist, und wer hier lebt, empfängt etwas vom Gast: Meinungen und andere Sichtweisen. Eine Begegnung auf Augenhöhe, die letztlich auf dem Austausch von Wissen beruht", sagt Schweeger. Konkret sind im Rahmen der Kulturhauptstadt vier große Projekte und Ausstellungen ins Leben gerufen worden, die genau das leisten sollen.

Selten zuvor im Reigen der Kulturhauptstädte war die Auseinandersetzung mit Tourismus so spürbar in das Programm eingeschrieben wie dieses Jahr bei
Selten zuvor im Reigen der Kulturhauptstädte war die Auseinandersetzung mit Tourismus so spürbar in das Programm eingeschrieben wie dieses Jahr bei "Salzkammergut 2024".
EPA/CHRISTIAN BRUNA

Anfangen muss man dafür wohl bei der Aufarbeitung bestehender Klischees, die Overtourism in die Hände spielen. Das Salzkammergut wird seit dem 19. Jahrhundert bis heute durch bildliche Darstellungen als Kulisse der Tourismus- und Freizeitindustrie geprägt. Die Ausstellung "Zeitreise – zwischen gelebter Tradition und Klischee" von Yvonne Oswald, bei der historische Aufnahmen des Salzkammerguts von Privatleuten und aus Archiven in Grundlsee gezeigt werden, reagiert auf diesen Umstand. Kunstschaffende werden sich in Folge mit diesem Bildmaterial auseinandersetzen und mit dem heutigen Salzkammergut als geopolitischem Raum beschäftigen.

Auch auf sterbende Wirtshäuser in einer Region mit an sich viel Tourismus möchte man angemessen antworten. Diese sollen mit gezielten Interventionen wiederbelebt werden, etwa durch Themenstammtische, Wirtshauslabore oder durch Kooperationen mit Tourismusschulen und künstlerische Performances. Unter dem Titel "Wirtshauslabor Salzkammergut 2024" versuchen regionale Köche wie Christoph Held vom Siriuskogl in Bad Ischl oder Jochen Neustifter aus Vorchdorf mit den bekannten Gastronomen Lukas Mraz, Philip Rachinger und Felix Schellhorn alias der Healthy Boy Band demnach, eine neue Wirtshauskultur zu ent­wickeln.

Alles über Tourismus

Ganz nah dran am schwierigen Feld des Overtourisms ist eine Ausstellung des Architekturzentrums Wien mit dem doppeldeutigen Titel "Über Tourismus". Dabei kommt die Erfolgsgeschichte Tourismus ebenso zur Sprache wie der Ruf nach Kapazitätsgrenzen. Gelungene lokale und internationale Beispiele sollen neue Denkansätze liefern zur zentralen Frage: Wie können wir einen Tourismus imaginieren, der nicht das zerstört, wovon er lebt? Karoline Mayer, die die Ausstellung zusammen mit Katharina Ritter kuratiert hat, meint dazu: "Am Salzkammergut kann man eine Entwicklung ablesen, die global zu beobachten ist: unglaubliche Konzentration an wenigen Orten, die damit überfordert sind, und daneben komplett ignorierte Orte, die oft schon Tourismus hatten, der dann aber plötzlich weggebrochen ist." Mayer hat für die Ausstellung viele Interviews durchgeführt und ist an Orten wie Altaussee auf eine selbstbewusste Zivilgesellschaft ­gestoßen, die unbegrenzten touristischen Wachstumsfantasien kritisch gegenüberstehen. Überhaupt fiel ihr auf, dass die diskursive Auseinandersetzung mit dem Thema Tourismus im Salzkammergut überwiegend auf offene Ohren gestoßen ist.

Hallstatt zwischen Overtourism und noch mehr Aufmerksamkeit
Hallstatt zwischen Overtourism und noch mehr Aufmerksamkeit
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Nicht zufällig wird "Über Tourismus" ab September in Vorchdorf gezeigt, das zu den touristisch weitgehend unbeleckten Orten des Salzkammerguts zählt. "Tatsächlich würde man sich dort mehr Tourismus wünschen", sagt Mayer und hebt die große Offenheit der Gemeinde für eine kritische Debatte hervor. Vorchdorf ist aber auch ein gutes Beispiel dafür, dass es ein lohnendes Ziel für den aufgeklärten Touristen der Zukunft sein könnte, eben weil dort konventioneller Tourismus fehlt. Ein Paradoxon? Eher nicht, sondern der Kern der Debatte. Denn mit 50 lebendigen Vereinen, einer funktionierenden Wirtshauskultur weist der Ort ein großes Spektrum an kulturellen und aktiven Möglichkeiten für alle Saisonen auf. Ob man mit dem Besuch dann auf Instagram angeben will, muss jede Besucherin und jeder Gast selbst entscheiden. (RONDO, Sascha Aumüller, 11.1.2024)