Ein übervoller Gabentisch garantiert noch lange nicht ungetrübtes Kinderglück: "Harry Potter und der Stein der Weisen" spart nicht mit aufwendigen Schauwerten, vergisst dabei aber auf das Herz von Joanne K. Rowlings märchenhaftem Bestseller.


Wien - Über greise Magier mit langen Bärten zu schreiben ist eine schöne Sache. Sie dann auf der Leinwand zu zeigen, ein Problem. Zu Beginn von Harry Potter und der Stein der Weisen besteht Hoffnung, dass die Übung gelingen könnte.

Richard Harris schreitet da als Albus Dumbledore (gibt es immer noch Menschen, die nicht wissen, dass er der Leiter der Zaubererschule Hogwarts ist?) durch eine britische Vorortsiedlung. Er löscht Laternenlichter, noch hält sich John Williams' Filmmusik zurück - und der Schattenriss einer Katze verwandelt sich in die nicht minder erfreuliche Maggie Smith: Als Professor McGonagall ist sie die zweite magische Patin für jenes Baby, das wenige Minuten später vor die Tür der feisten, dreisten, liebenswürdig hassenswerten Familie Dursley gelegt wird.

Wir sehen die Narbe auf der Stirn dieses Kindes. Die Vorfreude, die man als Harry Potter-Leser (oder Vorleser) empfinden mag, droht in Rührung umzukippen - und dann ereignet sich leider das Unsägliche: Per Digitaltrick verwandelt sich die Narbe in das Markenlogo und die angestrebte Magie in Mummenschanz, und daran wird sich in den folgenden 150 Minuten kaum jemals etwas ändern.

Nichts auslassen, alles zeigen: Dies war, kurz gesagt, das Konzept des Studios Warner Bros und des Regisseurs Chris Columbus (Kevin - Allein zu Haus). Alles zeigen ist nur leider nicht dasselbe wie alles empfinden. Überhaupt: "alles" - darunter versteht die Industrie eher alle Szenen, die ein geballtes Aufkommen von Aufwand und Action und Spezialeffekten gewährleisten. Da wird Hogwarts als zukünftige Konkurrenz zu Disneyland mit allen Erlebniswerten beschworen, als wär's ein Tourismusclip. Quidditch, Harrys Lieblingssport, wird gespielt, dass es nur so rauscht: Die Gameboy- und Playstation-Adaptionen dazu sind schon im Handel. Und wenn am Ende Potters Erzfeind Lord Voldemort seinen ersten Auftritt feiert, dann wird er auf Teufel komm raus mumifiziert und pulverisiert.

Ablenkung total!

Harry Potter im Kino, das ist keine märchenhafte Abhandlung über Verlust und Einsamkeit (was Joanne K. Rowling in ihrer Vorlage nahe legt), sondern ein Großaufgebot an schnellen Reizen, mit denen man von dieser Trauer permanent ablenkt - nach dem Motto: Du hast jetzt alles, was du wolltest, also halt endlich den Mund.

Die erste Szene in der Familie Dursley ist diesbezüglich unfreiwillig Programm: Harrys fetter Cousin Dudley klagt angesichts von 36 Geburtstagsgeschenken, dass er im Vorjahr 37 Paketchen erhielt. Damit soll er in der Logik der Geschichte als herzloses Feindbild etabliert werden, aber: Gerade für ihn ist dieser Film wohl gemacht worden.

Harry Potter und der Stein der Weisen ist eine derartige Geschenk-Kanonade, dass man in der Kinobestuhlung mitunter in Deckung gehen möchte. Nicht, weil das alles so spannend und unvorhersagbar wäre, sondern weil man förmlich erschlagen wird mit Momenten, in denen Freude und Staunen letztlich genauso Simulationen sind wie das, was hier als Magie nur behauptet wird.

Dementsprechend reduziert sich das Repertoire von Harry-Potter-Darsteller Daniel Radcliffe auf herziges Lächeln und: Augen auf, Kinnlade runter, Wow! Damit sieht wohl jeder Mensch auf die Dauer ein bisschen blöde aus. Und besonders redundant wird diese Strategie der Produzenten, wenn sie sich damit begnügt, Highlights aus dem Buch anzureißen und nicht fertig zu erzählen. Im Fall der Geburt eines liebenswerten kleinen Drachen namens Norbert wird etwa eine einschlägige Szene aus Jurassic Park herbeizitiert. Und dann kehrt man Norbert unter den Tisch wie auch die väterlichen Gefühle, die der riesenhafte Waldhüter Hagrid (Robbie Coltrane) für ihn empfindet.

Für Gefühle würde es einer Verlangsamung des Tempos und einer genaueren Personenzeichung bedürfen. Jedoch: Alle Darsteller, und seien sie auch so viel versprechend wie Alan Rickman als Professor Snape, verkommen zu Statisten. Zu Visagen in einem überlangen Trailer, der permanent ausruft: Kauft Potter! Seht auch die nächsten sechs Filme! Es wird noch besser werden! Der Haken an der Sache ist nur: Jetzt ist es (noch) nicht gut.

Man muss sich vergegenwärtigen, was rund um Harry Potter im Kino zuerst angedacht wurde: Joanne K. Rowling schwebte unter dem von ihr präferierten Regisseur Terry Gilliam (Brazil) wohl so etwas wie eine Wiederauferstehung der Monty Pythons vor: Davon ist jetzt nur John Cleese als Hausgeist "Nearly Headless Nick" übrig geblieben.

Steven Spielberg wiederum, der erwog, die sieben geplanten Potter-Bücher auf drei Filmspektakel zu verdichten, sah in Haley Joel Osment (The Sixth Sense) den idealen Titelhelden. Er wollte ihn - quasi in einer Verkehrung von Roger Rabbit - in einem ausschließlich digital generierten Ambiente agieren lassen. Das leistet Columbus' Film nur halbherzig. Teilweise sieht man manchen Tricks, etwa einem dreiköpfigen Riesenhund, die Eile, mit der der Film ins Kino kommen musste, als Beschädigung an.

Wir meinen nun: Harry Potter hätte den idealen TV-Adventvierteiler ergeben. Etwas, mit dem man in gebührender Sorgfalt wunderbare Familienabende verbringen hätte können. Die Zeit für solche Familienabende ist wohl vorbei, und Adventvierteiler tragen keine milliardenschwere Spielzeugindustrie. Daher fliegen uns jetzt die Potterabilien um die Ohren, aber Harry läuft Gefahr, dass man ihn aus den Augen verliert. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17./18. 11. 2001)