Jessica Hausner
|
STANDARD: Ihr Film endet, gelinde gesagt, mit einer Familienkatastrophe: Die Titelheldin
von Lovely Rita tötet ihre Eltern, nach einem Handlungsverlauf in einem Kleinbürgertum, wo das nicht unbedingt
absehbar war. Ist Ihnen das
wichtig, dass der Betrachter
quasi nachträglich Ihren Film
vom Ende her neu lesen und
sehen und deuten muss?
Es ist eine Mischung aus nachvollziehbaren Motivationen und einer Gelegenheit, die sich plötzlich für eine Gewalttat ergibt. Insofern habe ich versucht, den Film nicht zwanghaft logisch auf den Moment mit der Waffe in Ritas Hand hinzuführen. Aber es war mir wichtig, dass sie diesen Schritt "hinaus" macht, den Rahmen sprengt. Aber ihr Leidensdruck, oder wie auch immer man das nennen mag, steht natürlich in keinem Verhältnis zur Tat.
STANDARD: Man hat beim Sehen
das Gefühl: Einerseits erinnert
sich die Regisseurin an eine eigene Kindheit in den 70ern,
andererseits ist da von der Musik her zum Beispiel schon eine
klare Verortung im Heute.
Hausner: Das finde ich auch
sehr entspannend: Dieses
Gemischte, Zeitlose, Unklare.
Wenn die Dinge nicht so harmonisch zusammen gehen,
wie in diesen Wohnungen, wo
der 70er-Jahre-Vorhang über
dem neuen Sofa hängt. Es geht
mir nicht darum, eine Ganzheit zu behaupten, sondern
Geheimnisse anzudeuten -
das, was dahinter liegt. Warum man einen Menschen und
das, was er tun wird, nicht
mehr einschätzen kann.
STANDARD: Rita ist Schülerin in
einem katholischen Gymnasium. Warum?
Hausner: Einerseits war mir
dieses Religionsthema wichtig. Wenn später jemand einen
Mord begeht - was heißt das
dann vielleicht für den: "Ich
habe dir vergeben." Und in einer Szene sagt das auch eine
Mitschülerin zu Rita. Rita
sehnt sich ja auch danach,
dass sie irgendetwas auffängt.
Gleichzeitig fehlt das aber.
Der zweite Aspekt: Katholizismus spielt in Österreich eine gewichtige Rolle. Das weiß ich aus der eigenen Kindheit. Insofern war mir dieses Element schon aus der Perspektive des Realismus wichtig.
STANDARD: Wie gehen Sie beim
Drehbuchschreiben vor?
Hausner: Zuerst versuche ich,
die Struktur einer Geschichte
zu verstehen, und sie so weit
zu verinnerlichen, dass ich
einmal eine runde Seite dazu
zustande bringe. Dann gehe
ich eher unchronologisch auf
einzelne Szenen los. Auch
hier: Patchwork, das liegt mir.
STANDARD: Wobei die Laiendarsteller ja noch einmal ein eigenes Flair in die Sprache und
den szenischen Gestus bringen. Hat das viel am Originaldrehbuch verändert?
Hausner: Auf jeden Fall. Ich
merkte, der oder die jeweilige
würde etwas so nie sagen. Und
da musste ich dann den Text
überdenken. Es war speziell
bei den Erwachsenen übrigens
gar nicht so einfach, Darsteller
zu finden. Und es war wichtig,
denen das Gefühl zu geben,
dass sie sich fallen lassen
können, ohne denunziert zu
werden. Die Dreharbeiten waren ein Annäherungsprozess.
Szene für Szene konnten sich
die Darsteller eigene Möglichkeiten erschließen und erarbeiten. Dafür brauchten wir
jeweils bis zu dreißig Takes.
STANDARD: Barbara Osika, die
Hauptdarstellerin, ist ja ein besonderes Naturtalent.
Hausner: Was mich bei ihr
schon beim Casting so faszinierte: Es gibt da diese Stelle,
wo sie sagen muss: "Es tut mir
leid." Alle anderen Mädchen
haben das irgendwie klar interpretierbar ausgesprochen:
Betroffen oder patzig. Aber bei
ihr weiß man eigentlich nie,
woran man ist und wie sie das
jetzt meint.
STANDARD: Jugend in Österreich
wurde zuletzt selten in kleinbürgerlichem Milieu porträtiert. Was interessierte Sie an
dieser Lebenswelt?
Hausner: Es ist eine Gesellschaftsschicht, der einfach
viele angehören. Sie hat eine
große Häufigkeit. Das war ein
Beweggrund. Den Leuten aufs
Maul zu schauen, ist auch etwas, das ich gerne mag. Und
das passiert bei uns im Kino
eher selten.