Ein faszinierendes Spektakel bieten britische Parlamentswahlen allemal. Der brutale Schlagabtausch in den Wochen vor dem Termin, das eiserne Schweigen am Wahltag, das Wettzählen an den Auszählungsorten. Die Verkündung der 650 Einzelergebnisse aus den Wahlkreisen, wo der Premierminister friedlich neben einem als Mülltonne verkleideten Komiker mit dem Künstlernamen "Graf Tonnengesicht" steht. Schließlich tags darauf die televisuell begleiteten Fahrten des geschlagenen und des triumphierenden neuen Regierungschefs zur Audienz beim König – das alles ist großes Theater, wie es die Briten und ihre Bewunderer weltweit lieben.

Keir Starmer gab sein erstes Statement als Premierminister ab.
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An diesem Freitag hat das Vereinigte Königreich zudem demonstriert, wie Machtwechsel in erwachsenen Demokratien verlaufen sollten. Der Verlierer und der Sieger – Rishi Sunak und Keir Starmer – machten ihrem verdrossenen, maulenden Volk vor, wie man auf anständige Weise miteinander umgeht. Davon sollten sich die Schreihälse beider Seiten, die Einfaltspinsel rund um den Nationalpopulisten Nigel Farage ebenso wie die linken Gaza-Schreibtischprotestierer, eine Scheibe abschneiden.

Die friedliche Wachablösung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen: Labour-Boss Keir Starmer steht im neuen Amt vor einer gewaltigen Aufgabe. Die Tories haben in den vergangenen 14 Jahren massive inhaltliche Fehler begangen. Sie haben zugunsten der 2010 gewiss nötigen Rückkehr zur Finanzsolidität ein brutales, total überzogenes Sparprogramm installiert, das Krankenhäuser, Schulen und die Sozialversorgung an den Rand des Zusammenbruchs führte.

Laissez-faire-Kapitalismus

Statt den Auswüchsen der einst von Margaret Thatcher angestoßenen Privatisierung von Energie- und Wasserversorgern energisch zu begegnen, haben sie den verantwortungslosen Laissez-faire-Kapitalismus auf die Spitze getrieben. Die Folge sind Strom- und Gasrechnungen, die zu den höchsten in Europa zählen, sowie dauerhaft abwasserverseuchte Strände und Flüsse. Wenn nicht alles täuscht, droht einigen der massiv verschuldeten Unternehmen die Insolvenz, weil sie ihren Aktionären Milliardengewinne zuschoben, anstatt die elementare Bedürfnisse der Bevölkerung im Auge zu behalten.

Vor allem aber haben die Tories Politik nur noch als Spektakel verstanden und die Bevölkerung als Publikum ihres Psychodramas missbraucht. Vom Brexit war im Wahlkampf kaum die Rede. Aber die katastrophale strategische Fehlentscheidung haben in erster Linie die Konservativen verschuldet, und sie haben es anschließend verabsäumt, wenigstens das Beste aus der verkorksten Situation zu machen. Rechnet man Lockdown-Partys und Wetten auf Insider-Informationen hinzu, ergibt sich das Bild einer komplett abgewirtschafteten Partei.

Deshalb spricht der neue Premier wenig von konkreten Inhalten, verspricht kein Manna vom Himmel. Vielmehr redet Keir Starmer von der Politik des Dienens, von Respekt vor jenen, die in einer Demokratie das Sagen haben sollten. Stabilität und Maßhalten lautet sein Motto. Mit anderen Worten: Politik soll langweilig sein, dicke Bretter bohren, den Menschen realistische Hoffnungen machen. Wer das Dauertheater so liebt wie die an Schnappatmung leidenden britischen Medien, wird so etwas ungern hören. Als sympathisierender Beobachter sollte man Sunak, Starmer und ihrem Land Glück wünschen für den "Mut zur Langeweile". (Sebastian Borger, 5.7.2024)