Macron bei Parade
Macron (links) bei der Militärparade am Nationalfeiertag Frankreichs 2023.
AFP/POOL/GONZALO FUENTES

Wer sich mit der wichtigsten politischen Trinität der Neuzeit, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, beschäftigt, stolpert unweigerlich über die Frage, wer sie "erfunden" hat. Wenn man ­einschlägigen Nachschlagewerken Glauben schenken will, war es ein französischer Erzbischof, der Bücher über Rhetorik, Grammatik, Poetik und Mädchenerziehung verfasst hat und zuweilen in Kämpfe mit dem Protestantismus verwickelt war. Sein Hauptwerk, ein utopischer Staatsroman, in dessen Zentrum Telemach, der Sohn des Odysseus, steht, brachte ihn in Konflikt mit Ludwig XIV. Was nicht weiter verwunderlich ist, wurden doch in Les Aventures de Télémaque Prinzipien verkündet, die königlichen Widerspruch erregen mussten: Primat des Friedens, gesetzliche Einschränkung absolutistischer Macht und Wohlergehen breiter Volksschichten. Kurzum, der Erz­bischof von Cambrai, François de Salignac de la Mothe Fénelon (1651–1715), lernte den Unwillen des Königs kennen, der Druck seines Werks wurde gestoppt, das Buch erschien verspätet im Jahr 1699 ohne Autorisation des Verfassers, der hierzulande vergessen, im kollektiven Gedächtnis Frankreichs bis heute verankert ist. (Zu den Bewunderern dieses schwer einzuordnenden Frühaufklärers gehörte übrigens Goethe ebenso wie später Sartre.)

Identitätsstiftendes Erbe

Vermutlich war dem Verfasser die Brisanz seiner säkularen Trinität gar nicht bewusst, die erst neunzig Jahre später ihre Sprengkraft entfalten sollte. Wie der israelisch-österreichische Historiker Walter Grab einmal schrieb, wurde ein Jahrhunderte währendes, religiös verbrämtes Herrschaftssystem im Namen der "individuellen Freiheit, der rechtlichen und politischen Gleichheit" zu Fall gebracht.

Freiheit und Gleichheit nehmen in der gemäßigten Verfassung von 1791 und der ungleich radikaleren von 1793, die freilich statt der Brüderlichkeit Eigentum und Sicherheit zum dritten Prinzip erhebt, einen prominenten Platz ein. 1790 machte Robespierre in einer Rede den Vorschlag, Liberté, Egalité, Fraternité auf Fahnen und Uniformen zu schreiben. Seit 1848 hat die revolutionäre Trinität, mit Unterbrechungen, einen offiziellen Status. Sie gehört ganz zweifelsohne zum identitätsstiftenden Erbe Frankreichs und ist seit der Erklärung der Menschenrechte zu einem gemeinsamen symbolischen Welterbe geworden. So beruft sich Artikel 33 der ersten Verfassung des kommunistischen China ausdrücklich auf die Menschenrechte, die ohne Trinität nicht denkbar sind.

Die monolithische Einheit der emphatisch beschworenen Trias ist irreführend – das muss schon dem frommen Frühaufklärer Fénelon aufgefallen sein. Auf der einen Seite scheinen die drei Postulate zunächst einander zu bedingen, auf der anderen Seite geraten sie unversehens in Gegensatz zueinander, kann doch die Freiheit Ungleichheit erzeugen, während umgekehrt die uneingeschränkte Berufung auf Gleichheit und Brüderlichkeit Einschränkungen der Freiheit nach sich zieht. Das gilt nicht nur in Ländern wie China, wo die Kommunistische Partei machtvoll den Prinzipien der Gleichheit und Brüderlichkeit – und damit auch der Solidarität und des Gemeinwohls – zum Durchbruch verhilft, sondern auch für liberale westliche Demokratien, die in Ausnahmesituationen – Krieg, Pandemie, Staatsnotstand, übergeordnete Interessen – Freiheiten und Eigentumsrechte im Einklang mit der geltenden Rechtsordnung im Einklang mit dem Gleichheitsgebot für alle Menschen einschränken müssen.

Pathetische Beschwörung

Hinter der pathetischen Beschwörung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit tun sich Unterschiede und Unstimmigkeiten auf. Das betrifft die Interpretation der einzelnen Begriffe ebenso wie ­deren verschiedene geistesgeschichtliche Kontexte. Darüber hin­aus stellt sich die Frage, ob diese drei Säulen demokratischer Herrschaft gleichrangig oder hierarchisch geordnet sind. Im Verlauf der Geschichte haben Freiheit und Gleichheit nicht selten um den Vorrang gestritten. Zu erwähnen ist ferner der Verdacht, ob es nicht eine negative Dialektik gibt, in der Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit, wenn sie verabsolutiert werden, in ihr Gegenteil umschlagen. Die Freiheit der einen, die die der Anderen brutal aushebelt, die Gleichheit, die meine spezielle Eigenart missachtet, die Solidarität, die zu einem Zwang verkommt.

Es ist erhellend, sich anzusehen, wie selektiv etwa politische Parteien hierzulande auf die magische Zauberformel der Französischen Revolution Bezug nehmen. Ganz offenkundig beruft sich die demokratische Linke in Gestalt der SPÖ wie ihre deutsche Schwesterpartei auf sie, auch wenn sie den Begriff der Brüderlichkeit durch den der Gerechtigkeit ersetzt. Ihr konservativer Rivale, die ÖVP, stellt in ihrem Grundsatzprogramm von 2015, also vor der kurzlebigen Ära Kurz, die Freiheit ins Zentrum, schwächt damit die Aufrufung der Gleichheit merklich ab, wenn sie von der Gleichheit in Würde und Freiheit spricht und statt der Solidarität Leistung und Selbstverantwortung proklamiert. Die Neos wiederum verwandeln die klassische Triade in die Formel "Freiheit, Fortschritt und Gerechtigkeit".

Spirituelles Element

Dass die Brüderlichkeit, auch wenn man sie zur Geschwisterlichkeit weitet, derzeit nicht hoch im Kurs steht, ist augenfällig. Gerechtigkeit und Solidarität sind nämlich keine Synonyme für jene Sehnsucht nach einer letztendlich imaginären Gemeinschaft, in der sich alle Menschen als Teil einer Einheit begreifen. Sie enthält ein spirituelles Element, wie es im Pathos von Nationalhymnen („Heimat großer Söhne und Töchter“), von Arbeiterliedern (Brüder zur Sonne, zur Freiheit), aber auch in der komospolitischen Ode An die Freude Schillers („Alle Menschen werden Brüder“) anklingt, die Beethoven in den Schlusssatz seiner 9. Sinfonie inte­griert hat, der offiziellen Europahymne.

Die Versuchung liegt nahe, die moderne Trinität probeweise als eine säkulare Version jener vertrackten christlichen Dreieinigkeit zu begreifen, was bekanntlich schwieriger ist als einen ganzen Ozean auszuschöpfen. Folgt man dieser Überlegung, so repräsentiert Gottvater, der Welt und Menschen auch sich heraus erschaffen hat, eine einigermaßen absolute Freiheit, die zum Modell menschlicher Freiheit wird, bis diese in der Moderne an die Stelle des für tot erklärten Gottes tritt. Das Problem dabei ist, dass die Freiheit des Schöpfers als mehr oder minder absolut gilt, weshalb sie im traditionellen Kontext die Freiheit aller Anderen einschränkt und unmöglich macht. Irdisch entspricht diesem Reich des Vaters die absolute Macht und Freiheit des von Gott legitimierten Herrschers.

Die Gleichheit des Neuen Testaments wiederum zeigt uns eine Gemeinschaft der Gleichen, versinnbildlicht durch die zwölf Apostel und die weibliche Anhängerschaft Jesu. Viele von ihnen kommen aus den ärmeren Schichten und finden sich als Gleiche anerkannt wieder. Es ist kein Zufall, dass dieses egalitäre Moment in der filmischen und populärkulturellen Adaption von Jesus Christ Superstar betont worden ist. Zweifelsohne enthält das Neue Testament die Botschaft brüderlicher, schwesterlicher oder auch mütterlicher Gleichheit.

Demonstranten hinter Frankreich-Flagge
Bei den Protesten gegen die Pensionsreform waren Tausende auf Frankreichs Straßen zu sehen.
IMAGO/Pond5 Images

Kulturgeschichtlicher Horizont

Das leitet zur Brüderlichkeit über, zu den Menschen, die eines Geistes sind, wie das im Erlebnis von Pfingsten der Fall ist, in dem sich die dritte Gestalt des Transzendenten, der Heilige Geist, manifestiert. In ihm wird die Welt, so deutet Joachim von Fiore im Spätmittelalter die Dreieinigkeit in einer geschichtlichen Wendung, zu einem Riesenkloster gleichgesinnter Menschen. Zum dritten Reich.

Die Analogie zwischen den beiden Triaden macht deutlich, dass die Formel der Französischen Revolution weit über menschenrecht­liche Programme hinausgeht und einen kulturgeschichtlichen Horizont besitzt. Der modernen Demokratie wohnt ungeachtet ihres ausgesprochen profanen und allzu menschlichen Alltags ein utopisches und zugleich transzendentes Moment inne. Zudem bedarf die moderne Demokratie der Ausbalancierung ihrer drei tragenden Begriffe.

Beides trifft für jenes Land zu, das noch vor Frankreich den Weg in die Gleichheit aller Menschen beschritten hat: die Vereinigten Staaten von Amerika. In ihren Mani­festen wird die Gleichheit natur­philosophisch, aber auch christlich begründet. Die fälschlich als ursprünglich angenommene Gleichheit verdankt sich nicht zuletzt dem theologischen Argument, wonach alle Menschen Gottes Ebenbilder sind, die nunmehr samt und sonders berechtigt sind, am politischen Willensprozess teilzunehmen. Wie selbstverständlich und unhinterfragt diese luziden Verkünder der modernen menschenrechtlich begründeten Demokratie dabei die gute Hälfte der Menschheit, die Frauen, ausgeschlossen haben, das sei hier wenigstens kritisch vermerkt; es ändert aber nichts an dem prinzipiellen Bruch, der hier vollzogen worden ist. Skandalös spät, aber dann völlig unvermeidlich – Systemzwang – mussten die Frauen in die politische Trinität einbezogen werden.

Die Freiheit der Anderen

Jeder der drei Formelbegriffe hat eine Kehrseite: Die Freiheit, die die Freiheit der Anderen missachtet, schlägt in Willkür, Rücksichtslosigkeit und Missachtung um. Noch komplizierter verhält es sich mit der Gleichheit. Während Begriffe wie Gleichberechtigung, rechtliche Gleichheit oder Chancengleichheit positiv besetzt sind, haben die Gleichschaltung oder die Gleichmacherei eine unverkennbar negative Bedeutung. Wer will schon in moderner Zeit uniform gekleidet sein und das Gleiche sagen wie die Anderen? Die Gleichheit abstrahiert von unserer individuellen Verschiedenheit und von allen Differenzen, das ist Tugend und Problem zugleich. Womöglich sieht sie, die Ziel sein soll, auch von der real bestehenden Ungleichheit ab. Wo Gleichheit herrscht, kann dies auch ein Zustand in Unterdrückung und Armut sein.

Noch problematischer als die ersten beiden Säulen ist die Brüderlichkeit, und zwar nicht nur, weil sie die weibliche Hälfte der Menschheit vergisst, sondern auch, weil sie sich von erhabenem Gemeinschafts­gefühl in eine Zwangsveranstaltung verwandeln kann. Sie projiziert eine moderne, komplexe Gesellschaft von Millionen von Menschen auf eine imaginäre, theatralische Gemeinschaft gleichgesinnter Menschen, die sich in einem Fußballstadion, bei einer Demonstration oder beim Nationalfeiertag in eine scheinbar homogene Entität transformiert, die eines negativen Außen bedarf, um eine maximale Dichte zu erreichen. Aber all diesen möglichen Perversionen zum Trotz bleibt die Trinität mitsamt ihrer Varianten Grundbestand einer politischen Ordnung, die Ende des 18. Jahrhunderts das Licht der Welt erblickte. Der Clou besteht im Mix der drei Prinzipien. Die Trennlinien und Gemeinsamkeiten zwischen ihnen führen zu Selbstbegrenzungen. Die Demokratie unterliegt der Kunst des Austarierens. Den republikanischen Stadtstaaten der Antike wäre die Parole Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit so unverständlich gewesen wie das Konzept der Gewaltenteilung.

Die Zukunft Europas

1835 erschien das Buch des französischen Adligen Alexis de Tocque­ville, vordergründig Dokument eines längeren Amerikaaufenthalts, von dem er 1832 zurückgekehrt war. Aber es ist weit mehr als ein inter­essanter und amüsanter Reisebericht über die kulturellen Besonderheiten der Vereinigten Staaten von Amerika. Was Tocqueville seinen eigenen Angaben zufolge besucht hatte, war die Zukunft – Europas.

Man hat diesen überaus aufmerksamen Beobachter und kraftvollen Analytiker vornehmlich als einen liberalen Konservativen sehen wollen, aber das ist zumindest einseitig. Für den Zeitgenossen des liberalen Bürgerkönigs Louis-Philippe stand unumstößlich fest, dass die Tage der göttlichen Monarchen gezählt und die Entwicklung zur modernen Demokratie unumkehrbar waren. Den Kern dieses Neuen sah er in der Gleichheit, in dem Umstand, dass die Freiheit für alle gilt. Und in der Abschaffung einer ungleichen Ordnung, in der jeder an seinen Platz gestellt ist. Seine Pro­gnose dieser neuen Demokratie ist zuweilen, ungeachtet seiner kritischen Bemerkungen über die Liebe zum Geld, über Mittelmaß und Unbildung, fast euphorisch. Womöglich ist die amerikanische Demokratie "weniger glanzvoll" und "ruhmreich", schreibt der französische Beobachter, aber die Mehrheit der Bürger erfreut sich eines größeren Wohlstands und eines Lebens in Frieden. Sie genießen auch jene Gleichheit, die sie der Demokratie verdanken.

Das Mehrheitsprinzip, das den demokratischen Entscheidungsprozessen zugrunde liegt, hat indes Schattenseiten, etwa die Tendenz, geistige Freiheit, aber auch Handlungsfreiheit einzuschränken. Im Extremfall kann es auch zur Zerstörung der Demokratie führen. Tocque­ville glaubt nicht mehr an die Restauration einer durch Gott legitimierten Demokratie, aber was er prophetisch voraussah, ist die Möglichkeit, dass die Moderne neben der Demokratie noch eine andere Option in Gestalt diktatorischer Wahlregime bereithält. Letztere sind die Folge der Selbstzerstörung einer Demokratie, die nicht mehr imstande ist, ihre drei Grundgedanken – Freiheit, die stets die Freiheit der Anderen ist, Gleichheit als gesellschaftliche Grundbedingung und ein bestimmtes Maß an Gemeinschaftlichkeit – im Gleichgewicht zu halten.

Extreme Ungleichheit

Dieses Gleichgewicht gerät ins Wanken, wenn sie extreme Ungleichheit verdeckt und das Prinzip des sozialen Ausgleichs missachtet. Insofern ist der Sozialismus, der nach Möglichkeiten auf soziale und wirtschaftliche Egalität Ausschau hält, eine logische Konsequenz moderner Demokratie und ein wichtiges Element ihrer Stabilität. Wie der 'reale' Sozialismus indes gezeigt hat, kippt diese positive Funktion, wo dieser zur Einschränkung und Auflösung von wesentlichen Freiheitsrechten und Wohlstand führt. Heute ist die Demokratie durch die populistische Manipulation von Mehrheiten, die Tocqueville erahnt hat, in Bedrängnis, Teil der Logik des demokratischen Systems, der sich nicht ohne Mithilfe sogenannter sozialer Medien verselbstständigt hat und den Fortbestand liberaler menschenrechtlicher Demokratien bedroht.

Die dramatischen politischen Entwicklungen in Europa wie die jüngsten Wahlen in Frankreich machen deutlich, dass der Kampf um den Erhalt und die Weiterentwicklung einer offenen, demokratisch verfassten Gesellschaft sich nicht diesseits und jenseits dieser Formel abspielt, sondern innerhalb von ihr. Nicht umsonst heißt die postfaschistische Partei Giorgia Melonis Fratelli d’Italia. Marie le Pen wiederum deutet die Freiheit nationalistisch um, als Freiheit Frankreichs von einer feindlichen Außenwelt und von den bisherigen Eliten des Landes. Die stolze trinitarische Formel der Französischen Revolution allein reicht nicht aus, um Menschenrechte und Gewaltenteilung, Dialog und Respekt für Andere zu gewährleisten. Man muss ihr ein neues Gesicht verleihen. (Wolfgang Müller-Funk, 6.7.2024)