Beschmierte Wahlplakate
Nachdem der ehemalige Hoffnungsträger Macron das Parlament aufgelöst hatte, verhärteten sich die Fronten zwischen den politischen Parteien des Landes - und mit ihnen die zwischen den Bürgern.
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Die politische Landkarte Frankreichs hat sich seit einer Woche dramatisch verändert, der einstige Hoffnungsträger Macron, der angetreten war, das Land zu einen und zu modernisieren, hat es nach der selbstherrlich-einsamen Entscheidung, das Parlament aufzulösen, erwartbar ins Chaos gestürzt. Die kritischen Intellektuellen versuchen mehr oder weniger einen Damm zu bauen, um, wie schon so oft, eine absolute Mehrheit des Rassemblement National (RN)in letzter Minute zu verhindern. Die Stimmung schwankt zwischen vager Hoffnung und der ziemlichen Sicherheit, dass das Schlimmste passieren wird, wie die französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot es im Interview formuliert.

289 Sitze bräuchte der clevere Jordan Bardella, um Premierminister zu werden, der RN spricht inzwischen von nur noch 270 benötigten Sitzen. Cécile Wajsbrot, die in ihren Büchern immer wieder gegen Fremdsein und Ausgrenzung angeschrieben hat, erklärt, wie sich das politische Klima in den vergangenen 20 Jahren aufgrund zahlreicher Fehlentscheidungen und der Nichtbeachtung grundsätzlicher Probleme verändert hat: die Vernachlässigung des öffentlichen Sektors wie Krankenhäuser und Schulen, das marode Gesundheits- und Pflegesystem, die medizinische Wüste in den kleinen und mittleren Städten und auf dem Land, die vielen Stilllegungen und Schließungen von Fabriken und Unternehmen, die Fremdenfeindlichkeit, der Verlust an Orientierung, das Gefühl sozialer Ungerechtigkeit und vor allem die um sich greifende Angst, die sich nach der Welle von Attentaten 2015 noch verstärkt hat.

Erschwerte Verständigung

So ist das Wort "Sicherheit" omnipräsent geworden, mit allem, was das impliziert. Die Fronten haben sich verhärtet, und schon die Präsidentschaftskampagne von 2017 war durch eine unerhörte Gewaltbereitschaft und Radikalisierung gekennzeichnet. Selbst unter Freunden war die Verständigung schwierig. Damals habe sie begonnen, ihren Roman Zerstörung zu schreiben, der das Aufkommen einer neuen Macht, einer Diktatur, die alles um sich herum zerstört, beschreibt. Die Welt ist an ihr Ende gekommen, zu viel Bequemlichkeit, Selbstzufriedenheit und Wegsehen haben dem Populismus den Weg in die Diktatur geebnet. "Haben wir die Zeichen nicht erkannt?", fragt ihre Icherzählerin immer wieder.

Mit dem, was heute geschieht, verstehe man von innen heraus, wie die Diktatoren der 1920er- und 1930er-Jahre an die Macht gekommen sind. Das passiere nicht von heute auf morgen, das ist der Zusammenschluss zahlreicher Faktoren: "Kleine Bäche kommen da von verschiedenen Seiten und treffen sich plötzlich, um einen Fluss zu bilden, der über die Ufer treten und alles überschwemmen wird." Die Angst vor einer Wiederholung der Geschichte und die Frage, wann und wo dieser Umbruch stattgefunden hat, waren schon Thema ihres dystopischen Romans.

Cécile Wajsbrot
Cécile Wajsbrot schreibt gegen Zerstörung an.
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Eine unsichere Zukunft

Der Antisemitismus habe im Wahlkampf eine große Rolle gespielt, Mélenchon habe das Thema des Gaza-Krieges in den Vordergrund gestellt, und auch die Regierung und die extreme Rechte hätten einige Parolen seiner linkspopulistischen Partei La France insoumise in den Vordergrund gestellt, als wäre der RN ein Bollwerk gegen Antisemitismus. "Ich kann das nicht verstehen", sagt Wajsbrot, "dass einige wie Serge Klarsfeld lieber die Rechte wählen anstatt die Neue Volksfront (Nouveau Front populaire, kurz NFP, Anm.)." Die jüdische Gemeinde in Frankreich ist zwar die größte in Europa, aber sie hat kaum 500.000 Mitglieder bei 68 Millionen Franzosen: "Ich kann nicht glauben, dass der Antisemitismus Frankreich so sehr interessiert. Meine persönlichen Erfahrungen in der Vergangenheit haben mir meist das Gegenteil bewiesen."

Für Wajsbrot ist der RN eine zutiefst antieuropäische Partei. Die Beziehungen zu Deutschland waren vor allem die zur AfD, auch wenn er diese im Zuge seiner Entdiabolisierung inzwischen gekappt hat. Ähnlich sei die Haltung zur FPÖ in Österreich. Die deutsch-französischen Beziehungen sind schon seit langem angeschlagen, der Motor stottert: "Der letzte große Europäer war François Mitterrand, der 1995 gestorben ist." Für sie schien Macron zwar einer zu sein, aber als er an die Macht kam, hat Deutschland nicht auf seine Initiativen reagiert. Beide Länder haben seit langem einen unterschiedlichen Rhythmus in der Europafrage und unterschiedliche Ansichten, was gemeinsame Projekte und die Schuldenbremse angeht.

Europas Schutzwälle

Die Rechtsextremen wollen die EU nicht mehr verlassen, sondern sie von innen zerstören, ist Wajsbrot überzeugt. 70 Jahre nach ihrer Gründung ist die EU nicht mehr so abhängig vom deutsch-französischen Motor, andere bevölkerungsreiche Länder wie Spanien, Polen oder Österreich mit seiner zentralen Lage könnten diese Rolle übernehmen. Außerdem haben die Europawahlen gerade nicht den befürchteten Anstieg der Rechtsextremen gezeigt. Es gibt also noch Schutzwälle, und Europa hat wohl eine eingebaute Sicherung. Das sei der einzig mögliche Horizont für die europäischen Länder, aber dafür bräuchte es eine vertieftere Zusammenarbeit. Die hätte längst geschehen sollen.

Aber falls die extreme Rechte in Frankreich tatsächlich an die Macht kommt, fürchtet Wajsbrot mit Blick auf die nahe Zukunft, und bedenkt man die rechtsextreme Welle, die sich in ganz Europa ausbreitet, dann stehe das wohl gerade nicht auf der Tagesordnung.

Verstärkter Nationalismus

Die französische Schriftstellerin sieht in der verstärkten Verbreitung von Nationalismus in Europa, die zunächst nur ein Reflex auf die Grenzschließungen im Zuge von Covid 19 und die europäische Migrationspolitik war, mittelfristig eine Bedrohung für den Frieden. "Die Zukunft ist unsicher, mehr denn je", sagt sie.

Aber noch wissen wir nicht, welchen Schock das tatsächliche Wahlergebnis am Sonntagabend des 7. Juli auslösen wird: "Viele in der Politik haben diese Wahl schon abgeschrieben und denken nur noch an die Präsidentschaftswahlen 2027."

Vor diesem Hintergrund gewinnt ihr Roman Zerstörung ganz neue Aktualität. Dort sind es die Stimmen der Literatur und der Musik, die wie Barken "gegen die Strömung schwimmen" … In der Welt der Zerstörung sollen das individuelle und das kollektive Gedächtnis gelöscht, alle Bücher und Fotoalben verbrannt, Museen und Theater geschlossen und Sprachen verboten werden. All dies von einer übermächtigen Kontrollinstanz, einer Art Gedankenpolizei, die von der Erzählfigur, einer Schriftstellerin, verlangt, das alles transparent zu machen. Frankreichs extreme Rechte hat bisher nur die Kürzung des Kulturetats angekündigt.

Öffentliche Selbstkritik

Die legendäre Theaterregisseurin Ariane Mnouchkine hat öffentlich Selbstkritik geübt und der Linken und dem Kulturbetrieb vorgeworfen, das Volk vernachlässigt zu haben. Während Annie Ernaux in der Libération meint, wenn das Haus brenne, sei nicht der Moment für Selbstkritik. Darin stimmt Cécile Wajsbrot ihr zu: "Die politische Linke hat viele Fehler gemacht, die linke Intellektuellenszene ebenso, indem sie sich hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt hat." Wajsbrot nennt ein Beispiel: Bei der "Action culturelle" lässt man Schauspielerinnen und Autoren in die Schulen kommen, um Theaterworkshops oder Schreibwerkstätten einzurichten. Wajsbrot erinnert sich, dass sie in Gesprächen mit Verantwortlichen darauf hingewiesen hat, dass es Lesekreise bräuchte, um das Lesen literarischer Texte zu lernen, und anstatt Schauspieler auszubilden, sollte man mit den jungen Menschen ins Theater, Kino, in Museen und Bibliotheken gehen und diese Besuche vorbereiten. Das könnte helfen, die soziale Kluft zwischen Klassen und Milieus zu verringern.

Auch deshalb wollte sie mit Zerstörung einen dystopischen Roman schreiben, der nicht auf einem anderen Planeten oder in einem fernen Land spielt, sondern in Frankreich. Man hat immer noch den Eindruck, dass in Frankreich nichts Schlimmes passiert. Anderswo gibt es Diktaturen, Grausamkeiten, in Frankreich gibt es nur Liebesgeschichten, die vielleicht schlecht ausgehen. Die Mehrheit der Politik- und Kulturschaffenden ist sich einig, dass Frankreich eine Ausnahme bildet. Aber nein, sagt Wajsbrot: "Es gibt keine französische Ausnahme. Auch in Frankreich können sich wie anderswo schlimme Dinge abspielen." (Barbara Machui, 6.7.2024)