Es war eine Szene für die Geschichtsbücher: Joe Biden und seine Stellvertreterin Kamala Harris standen auf dem Südbalkon des Weißen Hauses und blickten in den Himmel, an dem am Donnerstagabend das alljährliche Feuerwerk zum US-Unabhängigkeitstag erstrahlte. Auf dem Rasen saßen und standen 8000 Gäste. Aus den Lautsprechern dröhnte der Queens-Ohrwurm We Are the Champions.

Wohl zum letzten Mal standen Joe Biden und Kamala Harris am Independence Day gemeinsam am Balkon.
Wohl zum letzten Mal standen Joe Biden und Kamala Harris am Independence Day gemeinsam am Balkon.
AFP/MANDEL NGAN

Biden sei ein "außergewöhnlicher Präsident", so hatte Harris zuvor ihren Chef gepriesen. Der 81-Jährige ergriff nur kurz das Mikrofon: "Unsere Freiheit und Demokratie stehen auf dem Spiel", rief er der Menge mit Blick auf die Wahlen zu. Gerade einmal 45 Sekunden dauerte seine Rede an diesem tropisch schwülen Sommerabend. "Four more years!" (Vier weitere Jahre) stimmten ein paar Zuschauer an. Doch der Sprechchor verstummte schnell.

"Ich gehe nirgendwohin"

Tatsächlich spricht wenig dafür, das die beiden Politiker den 4. Juli 2025 erneut gemeinsam im Weißen Haus feiern können. Die Umfragewerte für Biden sind nach dessen desaströsem Auftritt beim TV-Duell im Keller. Niemand in Washington möchte derzeit darauf wetten, dass der greise Präsident im November Donald Trump besiegen kann. "Ich gehe nirgendwohin", erteilte Biden an diesem Abend Forderungen nach einem Rückzug eine trotzige Absage. Doch der parteiinterne Druck wächst enorm. Als wahrscheinlichste Alternative gilt: Kamala Harris.

"Ich liebe Joe Biden", schrieb Tim Ryan ein Ex-Abgeordneter in einer Newsweek-Kolumne – aber auch: "Kamala Harris sollte die Kandidatin der Demokraten 2024 sein."

Nur wenig verklausulierter äußerte sich der mächtige afroamerikanische Fraktionsvize Jim Clyburn: "Ich bin für Biden, wenn Harris nicht antritt. Und ich bin für Harris, wenn Biden nicht antritt." Auch Hakeem Jeffries, der Minderheitsführer der Demokraten, stimmt andere Kongressmitglieder intern auf Harris als beste Alternative ein.

Viele Namen, wenige Chancen

Seit der Präsident vor einer Woche im TV-Duell mit zahlreichen Versprechern und Aussetzern regelrecht abgestürzt ist, werden in den Medien viele potenzielle Namen für den Fall eines Rückzugs gehandelt. Gavin Newsom, der smarte Gouverneur von Kalifornien, gehört ebenso dazu wie Gretchen Whitmer, die bodenständige Gouverneurin von Michigan, oder Josh Shapiro, der populäre Gouverneur des wichtigen Swing-States Pennsylvania.

Doch keiner dieser Politiker und Politikerinnen kann eine klare Mehrheit der Partei hinter sich versammeln. Und so freunden sich gerade immer mehr Demokraten und Demokratinnen mit dem Gedanken an Kamala Harris an – eine durchaus bemerkenswerte Entwicklung: In ihrer Zeit als Vizepräsidentin seit Jänner 2021 hat die heute 59-Jährige nämlich selten geglänzt. Eher fiel die Juristin im hohen Staatsamt durch eine knallharte Personalführung, unglückliche Äußerungen und politische Misserfolge – etwa in Sachen Einwanderungspolitik – auf.

Doch Harris hat gegenüber ihren möglichen Konkurrenten wichtige unbestreitbare Vorzüge: So ist sie landesweit bekannt und spricht als schwarze Frau genau jene Wählerschichten an, auf deren Stimmen die Demokraten angewiesen sind.

Gute Argumente

Jünger und energiegeladener als Biden ist sie auf jeden Fall – und Eloquenz kann man der früheren Staatsanwältin nicht absprechen. Inhaltlich kann sie als liberale Frau zudem den Kampf für das Recht auf Abtreibung glaubhafter betreiben als der sehr alte und katholische Mann Joe Biden.

Aber es gibt auch profanere Gründe: Harris ist die erste Frau, die erste Schwarze und die erste Amerikanerin mit asiatischen Wurzeln im US-Vizepräsidentenamt. Für die Demokraten wäre es ein echtes Problem, wenn sie ausgerechnet sie bei der Suche nach einer Biden-Nachfolgerin übergehen würden.

Auch hat sie langjährige Erfahrungen auf dem Washingtoner Parkett. Ihr Lebenslauf ist – anders als der ihrer potenziellen Wettbewerber – eingehend auf mögliche Schwachstellen durchleuchtet worden. Und nicht zuletzt könnte Joe Bidens gewaltige Wahlkampfkasse, in der rund 250 Millionen Dollar schlummern, bei einem Verzicht auf seine Stellvertreterin übertragen werden. Die anderen denkbaren Anwärter müssten hingegen finanziell bei null beginnen.

Beim Feuerwerk am Nationalfeiertag schienen alle Probleme kurz ausgeblendet. Lachend standen Biden und Harris auf dem Balkon nebeneinander. Demonstrativ rissen sie gemeinsam ihre Arme nach oben. Am Ende fielen sie sich sogar um den Hals. Aus der Ferne konnte man nicht erkennen: Wer stützt hier wen? (Karl Doemens aus Washington, 5.7.2024)