Justizpalast in Wien.
Wenn Polizisten nicht schnell genug handeln, muss die Republik zahlen. Opfern kommt dabei eine Beweiserleichterung zu, entschied der OGH in einem wegweisenden Urteil.
APA/EVA MANHART

L. wurde von ihrem Freund K. monatelang bedroht, gestalkt und geschlagen. Als die Polizei im Februar 2020 einschreitet, ändert sich erst einmal: gar nichts. Die Beamten erstatten zwar Anzeige wegen fortgesetzter Gewaltausübung und Körperverletzung gegen den Mann, doch sie verfügen weder ein Annäherungsverbot, noch informieren sie die Staatsanwaltschaft. Zwei Wochen später sticht K. mit einem Messer auf L. ein. Sie wird schwer verletzt und überlebt nur mit Glück.

K. wird wegen Mordversuchs zu einer Haftstrafe von zwölf Jahren verurteilt; Schadenersatz kann er mangels Vermögens nicht bezahlen. Doch L. sieht die Verantwortung für ihre Verletzungen nicht nur bei ihrem Ex-Freund, sondern auch bei der Polizei. Vor Gericht verlangt sie von der Republik Österreich 95.000 Euro, hauptsächlich als Schmerzensgeld. Ihr Argument: Hätten die Beamten rechtzeitig ein Betretungs- und Annäherungsverbot gegen den Mann verhängt, hätte er die Tat nicht begehen können.

Das Landesgericht Wien und das Oberlandesgericht Wien wiesen die Klage ab. Doch nach einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (OGH) haben sich die Erfolgschancen von L. deutlich erhöht. Das aktuelle Urteil (1 Ob 39/24b) stellt nämlich explizit klar, dass der Staat Mitverantwortung trägt, wenn die Polizei bei Gewalt gegen Frauen schuldhaft kein Betretungs- und Annäherungsverbot ausspricht. Die endgültige Entscheidung über den Fall liegt nun bei den unteren Gerichtsinstanzen, die noch einmal Beweise aufnehmen müssen. Eines ist aber schon jetzt klar: Das Urteil wird einen Präzedenzfall schaffen. Denn die Art und Weise, wie der OGH die Verantwortung der Polizei definiert, könnte für viele weitere Verfahren relevant sein.

Beweiserleichterung für Frau

Wer Schadenersatz will, muss vor Gericht üblicherweise beweisen, dass die beklagte Person den Schaden tatsächlich verursacht hat. Das Landesgericht Wien hatte diesen Beweis im aktuellen Fall verneint und stützte damit die Argumentation der Finanzprokuratur, die die Republik Österreich vertritt. Zwar hätten die Polizisten ein Betretungs- und Annäherungsverbot aussprechen müssen, es sei allerdings nicht nachweisbar gewesen, dass dies die Tat tatsächlich verhindert hätte. Denn selbst bei einem Betretungsverbot hätte der Mann die "faktische Möglichkeit" gehabt, die Tat zu begehen. Die Verantwortung der Polizei sei daher nicht ausreichend belegt; Schadensersatz komme nicht infrage.

Doch der OGH stellt in seiner aktuellen Entscheidung klar, dass dieser Beleg gar nicht so eindeutig sein muss. Vielmehr reicht vor Gericht schon ein "Anscheinsbeweis". Das bedeutet, dass L. eine Beweiserleichterung zukommt. Der Frau sei nämlich "gerade jener Schaden entstanden, dessen Eintritt durch die Anordnung eines Betretungs- und Annäherungsverbots hätte hintangehalten werden sollen", heißt es in der Entscheidung. Da ein solches Verbot für Täter verpflichtend ist, müsse man auch annehmen dürfen, dass sich diese daran halten. Weil das Landesgericht und das Oberlandesgericht Wien dies in ihren Entscheidungen nicht berücksichtigt haben, muss das Verfahren wiederholt werden – mit guten Aussichten für L. Denn die Finanzprokuratur müsste jetzt vor Gericht beweisen, dass K. seine Ex-Freundin trotz Annäherungsverbots "mit hoher Wahrscheinlichkeit" angegriffen hätte. Ob ihr das gelingt, ist offen.

"Bahnbrechendes Urteil"

Unabhängig vom Ausgang des aktuellen Verfahrens bezeichnet die Rechtsanwältin von L., Sonja Aziz, das Urteil des OGH als "bahnbrechend". "Meiner Klientin ging es in dem Verfahren nicht nur um ihren eigenen Schadenersatz, sondern auch darum, einen Präzedenzfall zu schaffen." Die Entscheidung halte Justiz und Polizei dazu an, Frauen, die von Gewalt betroffen sind, besser zu schützen. "Das ist essenziell, vor allem im Hinblick auf die hohe Femizidrate in Österreich", sagt Aziz im Gespräch mit dem STANDARD. "Der OGH hat ganz klar ausgesprochen, dass Frauen Schadensersatz bekommen können, wenn die Polizei schuldhaft kein Betretungs- und Annäherungsverbot ausspricht." (Jakob Pflügl, 6.7.2024)