Es ist merkwürdig. Da kommt eine Hiobsbotschaft aus Brüssel, aber in Österreich scheint sie niemanden zu interessieren. Weder gibt es heftige politische Reaktionen, noch schlägt die Nachricht in der öffentlichen Wahrnehmung hohe Wellen. Jetzt ist mal die Fußball-EM und danach irgendwann die Nationalratswahl – alles andere wirkt weit, weit weg.

Die Botschaft lautet: Wir haben ein veritables Staatsschuldenproblem. Die nächste Regierung wird es nach der Wahl lösen müssen, ob durch Ausgabenkürzungen oder neue Steuern. Es fehlen – gemessen am Jahr 2019, als die Budgetlage noch vergleichsweise ausgeglichen waren – pro Jahr bis 2028 rund 2,6 Milliarden Euro oder zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Ansagen und Wirklichkeit

Wie kann das sein? Hat nicht gerade die ÖVP, die seit über eineinhalb Jahrzehnten die Finanzminister stellt, stets Budgetdisziplin und -strenge betont? Hat sie nicht in Brüssel gern für schärfere Regeln für Budgetsünder getrommelt? Alles richtig. Doch die Ansagen und die Realität in Österreich stimmten nicht überein. Die türkis-grüne Regierung hat sich viel zu spät vom Credo "Koste es, was es wolle" verabschiedet. Da war das Zinsniveau schon wieder hoch, die Krisen um Corona und Energie abgeklungen. Und man hätte wieder auf die Zahlen achten müssen.

Magnus Brunner
ÖVP-Finanzminister – nicht nur der aktuelle, Magnus Brunner – geben sich gern als Sparmeister, vor allem in Brüssel. Dies wird der Realität in Österreich nicht gerecht.
APA/EVA MANHART

Doch in Österreich wurde weiterhin Geld ausgegeben, und zwar mit der Gießkanne: für alle ein bisschen. Der Klimabonus schlägt sich heuer laut Fiskalrat mit zwei Milliarden Euro zu Buche. Das Klimaticket für alle 18-Jährigen kostet 120 Millionen. Durch die Abschaffung der kalten Progression entgehen dem Finanzminister laut Budgetdienst wegen des Verzichts auf die schleichende Lohnsteuererhöhung nächstes Jahr unglaubliche acht Milliarden Euro. Mit dieser Summe ließe sich das Loch großteils stopfen.

Dringende Maßnahmen

Letztlich bedeutet die Abschaffung der kalten Progression: Wer Lohnsteuer zahlt, wird entlastet – je mehr Verdienst, desto besser. Jene aber, die nicht oder nur prekär arbeiten, haben kaum etwas davon. Letztere Gruppen zahlen später am stärksten drauf, wenn die Republik in den kommenden Jahren aus Spargründen jene staatlichen Leistungen einkürzen muss, die Geringverdiener am stärksten in Anspruch nehmen. Grundsätzlich war es zwar richtig und wichtig, diese ungerechtfertigte Steuererhöhung abzuschaffen – aber ohne kluge Gegenfinanzierung wirkt sie wie eine Umverteilung von den Unterschichten in die Mitte und nach oben. Angesichts dessen ist es richtig, dass zumindest das dritte Drittel der kalten Progression politisch verteilt wird, etwa an Alleinerzieherinnen.

Es wird jedenfalls Maßnahmen gegen die Schulden brauchen, und zwar dringend. Zum Beispiel das radikale Zurückfahren eben jener Gießkannenpolitik. Oder die Durchforstung des Förderdschungels zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Auch eine Erbschafts- und Schenkungssteuer wäre angebracht, weil sie jene trifft, die stark profitieren, ohne dafür eine Leistung zu erbringen. Denkbar wäre auch, die Abschaffung der kalten Progression vorübergehend zu pausieren, um die Budgetzahlen zu stabilisieren. Das wäre zwar ein harter Schlag für die türkis-grüne Regierung, aber leicht realisierbar und ertragreich. Denn das milliardenschwere Sparprogramm wird bald bittere Realität sein. (Joseph Gepp, 4.7.2024)