Antonio Rüdiger, Verteidigerkollege von David Alaba bei Real Madrid, kann seinen Gegenspielern ganz schön auf die Nerven gehen.
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Deutschlands Hoffnung vor dem Viertelfinalhit gegen Spanien ragt 190 Zentimeter in den Himmel, bringt 89 Kilogramm auf die Waage, steckt in Under Armour Clone Magnetico 3.0, trägt Kurzhaarfrisur, Rauschebart und wuchs im Berliner Bezirk Neukölln auf. Ausgerechnet Neukölln. Der Bezirk im Südosten Berlins ist kultureller Schmelztiegel, sein Ruf eilte ihm lange voraus – hoher Migrationsanteil, junge Bevölkerung, Dönerläden und Shishabars, Platz vier aller Berliner Bezirke nach Anzahl erfasster Straftaten 2022. Kurz: das Anti-Baden-Württemberg.

Die Weiße Siedlung im Norden Neuköllns liegt an der Sonnenallee und besteht insgesamt aus etwa 1700 Wohnungen, rund 4500 Menschen leben dort. Von der Gentrifizierung, die vor Neukölln keinen Halt macht, ist hier wenig zu sehen. Rund ein Drittel hat Migrationshintergrund. In einem der fünf Gebäudekomplexe, die mit bis zu 18 Stockwerken in den Himmel ragen, verbrachte Antonio Rüdiger seine Kindheit, seine Jugend. Sie ist somit der Ursprung eines der besten Verteidiger der Welt.

Der 31-Jährige hat die Weiße Siedlung mit dem Weißen Ballett, also Real Madrid, getauscht. Er lebt jenen Traum, der in 99 von 100 Fällen von der Realität zerschmettert wird. In einem Interview mit dem Fußballmagazin 11Freunde sagte er einmal: "Da wo ich herkomme, Neukölln, Sonnenallee, Hochhaussiedlung, da hast du keine Träume. Oder anders: Du kannst natürlich rumträumen, aber es bringt nichts, die Realität sieht immer anders aus."

Nix mit Hollywood

Rüdigers Geschichte, sein Werdegang ist eigentlich der Stoff, aus dem kitschige Sportgeschichten gemacht werden. Vom Tellerwäscher zum Millionär, man kennt das, man liebt das. Rüdigers Vater Matthias ist deutscher Staatsbürger, seine Mutter Lily floh Anfang der 1990er-Jahre vor dem Bürgerkrieg aus Sierra Leone, aus Westafrika. Es heißt, Matthias benannte seinen Sohn nach dem Schauspieler Antonio Banderas. Mehr Hollywood geht kaum.

Rüdiger und Alaba wirken oft wie ein Herz und eine Seele.
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Rüdiger wusch natürlich keine Teller, er kickte auf den Plätzen der Gegend, war also ein Straßenkicker. Eine Eigenschaft, die ihn während seiner Karriere immer wieder begleiten sollte: im positiven wie im negativen Sinn. Denn Rüdigers großer Trumpf ist seine Körperlichkeit, seine Aggression, sein Trotz gegenüber Vorurteilen und Gegebenheiten. Sein Motto: "Wenn jemand sagt, der Rüdiger schafft das nicht, macht mich das stark." Die Fußballplätze, die Käfige waren von Rauheit geprägt, Rüdiger lernte, möglichst wenig Schwäche zu zeigen. Sie nannten ihn Rambo auf den Plätzen in Neukölln.

Horst Hrubesch

Mit 15 Jahren verließ Rüdiger Berlin und wechselte in den Nachwuchs von Borussia Dortmund, wurde vom Außenstürmer zum Innenverteidiger umgeschult. Auch der Deutsche Fußball-Bund wurde auf ihn aufmerksam, plötzlich schien der Bub aus Neukölln in diversen Nachwuchskadern auf. Als prägende Figur nannte Rüdiger immer wieder Horst Hrubesch, der den überambitionierten Jungkicker einmal zur Seite genommen haben soll: "Weißt du eigentlich, wie gut du bist?", fragte der Trainer – und soll empfohlen haben, mittels eines Sportpsychologen die Aggressionen in den Griff zu bekommen.

Es gelang. Oder besser gesagt: Es ging in die richtige Richtung: 2011 wechselte Rüdiger zum VfB Stuttgart. Am 13. Mai 2014 absolvierte er sein erstes Länderspiel für Deutschland. 2015 zog es ihn zur AS Rom, 2017 wechselte er für 35 Millionen Euro zum FC Chelsea nach London. Er war schon ganz oben, bis schließlich 2022 das Angebot kam, in den Olymp zu wechseln. Seit zwei Jahren steht Rüdiger bei Real Madrid unter Vertrag, zählt zu den besten Verteidigern des Planeten. Im Halbfinalkracher zwischen Real und ManCity im April nahm Rüdiger den Stürmerstar Erling Haaland aus dem Spiel, entnervte die norwegische Tormaschine. Die Zeitung Marca nannte ihn anschließend "den größten Verrückten des Weltfußballs". Oder ein anderes Mal, als er Gegenspieler Alvaro Morata, auf der er auch am Freitag treffen könnte, in die rechte Brustwarze zwickte.

Spektakel und Albtraum

Neben seinen fußballerischen Qualitäten ist Rüdiger auf dem Platz ein Spektakel. Für ihn und seine Fans. Für seine Gegenspieler ist der verheiratete Vater von zwei Kindern ein Albtraum. Rüdiger ist ein König des Trashtalks, seine Mätzchen driften manchmal ins Clowneske ab, er will um alles in der Welt in die Köpfe seiner Gegenspieler. Rüdigers Kniffe wirken dabei nicht von langer Hand geplant, sondern als spontane, kurze, aber intensive Manifestationen seines fußballerischen Charakters: gewinnen um jeden Preis. Durchsetzen, koste es, was es wolle.

Er ist dabei kein stumpfer Ausputzer, kein banaler Wegschädler, obwohl sein Kopfballspiel exzellent ist. Rüdigers Trümpfe sind seine Dynamik, seine Geschwindigkeit und auch sein Passspiel. Den Wechsel nach Italien erklärte er dem Spiegel einmal so: "Ich wollte unbedingt nach Italien, um mich taktisch zu verbessern." Mit Chelsea gewann er die Europa League und die Champions League, mit Real holte er seinen zweiten Champions-League-Titel und die Meisterschaft.

Sind die Fußballschuhe ausgezogen, ist Rüdiger weit weg von Neukölln. Er hält seine Familie aus der Öffentlichkeit, gibt sich locker, aber nie überdreht. Für einen Spaß oder lockeren Spruch ist er dennoch immer wieder gut, mit David Alaba versteht er sich bei Real blendend.

Rüdiger: „Boah Bruder, ich bin sowieso hässlich!“😂🤕 #shorts#championsleague
SPORT1

Immer wieder setzte sich der Verteidiger während seiner Karriere aktiv gegen Rassismus ein – auch weil er selbst oft davon betroffen war. In einem Brief auf der Plattform The Players Tribune erinnert er sich:

"'Du gehörst nicht hierher.' Weißt du, wie oft ich das gehört habe?

Weißt du, wie oft man mir gesagt hat, ich solle nach Afrika zurückgehen?"

Besonders schlimm war es 2017 im Römer Derby, dem "Derby della Capitale". Rüdiger wurde bei der Niederlage seiner Roma von den Lazio-Fans massiv rassistisch beleidigt, sogar ein Spielabbruch stand im Raum: "Jedes Mal, wenn ich den Ball berührte, machten sie Affengeräusche. Es waren nicht nur ein paar Leute. Es war ein großer Teil der Lazio-Fans. Es war nicht das erste Mal, dass ich rassistisch beleidigt wurde, aber es war das schlimmste. Es war echter Hass. Man erkennt es, wenn man es in ihren Augen sieht", schreibt er bei The Players Tribune.

Zeigefinger nach oben

In Deutschlands EM-Team ist Rüdiger sicher einer der Stars unter den Stars. Gemeinsam mit Toni Kroos. Und doch ist er irgendwie die Antithese zum bürgerlichen Kroos, zum überlegten Strategen des Mittelfelds.

Das liegt auch an der deutschen Öffentlichkeit. Oder zumindest Teilen davon. Zu Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan hatte Rüdiger ein Foto auf Instagram gepostet. Es zeigt ihn kniend auf einem Gebetsteppich, dabei streckt er den rechten Zeigefinger nach oben. Diese Geste wertete der Journalist Julian Reichelt, ehemals Chef bei Bild und nun prominenter Kopf beim rechtspopulistischen Portal Nius, als "Islamisten-Gruß".

Rüdiger und Kroos bei Real. Beide sind Leader im deutschen EM-Team.
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Rüdiger stellte klar, dass es sich bei der Geste um den "Tauhid-Finger" handle. Dieser gelte "im Islam als Symbol der Einheit und Einzigartigkeit Gottes". Mehr hatte es nicht gebraucht.

Auch Rüdigers Interview nach dem Spiel gegen Dänemark, als er sagte, "man hätte die Dänen früher töten müssen", sorgte für Aufregung. Mitspieler Kroos verteidigte Rüdiger (der in der Partie übrigens zum besten Spieler gewählt wurde). Eine Aufregung, die sich mit einem Sieg im Viertelfinale gegen die starken Spanier wieder legen wird, das ist so sicher wie das Amen im Gebet. (Andreas Hagenauer, 5.7.2024)

Mögliche Aufstellungen zum Fußball-EM-Viertelfinalspiel Spanien – Deutschland am Freitag in Stuttgart:

Spanien – Deutschland (Stuttgart, 18.00 Uhr/live ORF 1, ARD, SR Taylor/ENG)

Spanien: 23 Simon - 2 Carvajal, 3 Le Normand, 14 Laporte, 24 Cucurella - 20 Pedri, 16 Rodri, 8 Ruiz - 19 Yamal, 7 Morata, 17 Williams

Deutschland: 1 Neuer - 6 Kimmich, 2 Rüdiger, 4 Tah, 3 Raum - 23 Andrich, 6 Kroos - 10 Musiala, 21 Gündogan, 17 Wirtz - 7 Havertz