Bei der Europameisterschaft machte sich der Videoassistent (VAR) besonders im Spiel Deutschland gegen Dänemark unbeliebt.
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Tooooor! Oder doch nicht? Früher waren es Schiedsrichter, die darüber entschieden haben, ob ein Treffer bei der Fußball-Europameisterschaft zählt oder nicht. Das tun sie auch heute noch. Es gibt aber einen gewichtigen Unterschied zu früher, wodurch das gesamte Geschehen auf dem Spielfeld penibel überwacht wird: Das System rund um den Videoassistenten, kurz VAR (aus dem Englischen für Video Assistant Referee), unterstützt Schiedsrichter seit Jahren, damit sie weniger Entscheidungslast tragen und sich in strittigen Situationen ein besseres Bild verschaffen können.

"Verrückte" Entscheidungen?

Es ist ein System, das nicht unumstritten ist. Die Unzufriedenheit der Trainer, Spieler und Zuschauer zieht sich wie ein roter Faden durch alle europäischen Fußballligen – und fand zuletzt im EM-Achtelfinale der Deutschen gegen die Dänen ihren vorläufigen Höhepunkt. Zuerst war dem dänischen Nationalteam ein Tor wegen einer Zehenlänge im Abseits aberkannt worden. Wenige Minuten später hatte der Ball die Hand eines Abwehrspielers im dänischen Strafraum so unglücklich gestreift, dass ein Strafstoß daraus resultierte.

Nicht nur "Danish Dynamite" war nach dem Spiel wegen "verrückter" Entscheidungen kurz vorm Explodieren, auch im Internet gingen die Emotionen hoch, man sprach unter anderem davon, dass Dänemark durch den VAR "beraubt" worden sei und man den Meistertitel gleich den Deutschen überreichen könne. Einige Kommentatoren und Ex-Fußballer in dieser Funktion wirkten ähnlich verärgert. Um eine gescheiterte Technik muss man sich dabei aber eigentlich keine Sorgen machen.

Hightech im Ball und auf dem Platz

Dass auf Handspiel und Strafstoß entschieden wurde, ermöglichte die sogenannte Connected-Ball-Technologie im offiziellen Spielball der EM. Die "Fußballliebe", so der blumige Name des runden Polyesters, denn aus Leder ist der Fußball nicht mehr, ist erstmals mit einer 14 Gramm leichten Sensoreinheit ausgerüstet, die einen Ultrabreitbandsensor und eine sogenannte Inertial Measurement Unit an Bord hat. Damit wird laut Angaben des Herstellers 500-mal pro Sekunde gemessen, ob, wie und von wem der Ball berührt wird. Über Beschleunigungsdaten wird auch genau ermittelt, zu welchem Zeitpunkt eine Ballabgabe erfolgt.

Zusätzlich zur Balltechnologie wird bei der EM eine hohe Anzahl an Kameras genutzt, um die Positionen der Spieler zu verfolgen. Insgesamt zehn Kameras, die unter den Stadiondächern installiert sind, erfassen mit 50 Bildern pro Sekunde das Spielfeld und tracken jeweils 29 Körperpunkte aller 22 Spieler. Diese Daten werden genutzt, um ein 3D-Skelett jedes Spielers zu erstellen, das hilft, die korrekte Zuordnung von Gliedmaßen in komplexen Spielsituationen zu gewährleisten. Hierzu werden Algorithmen einer KI-gestützten Software verwendet, die speziell darauf trainiert sind, Körperteile zu identifizieren und einem Skelett zuzuordnen.

Die so erzeugten 3D-Modelle der Spieler ermöglichen es auch, genau festzustellen, ob bei einem Zuspiel eine Abseitsstellung vorlag oder nicht. Sehr genau: Im Fall des betroffenen Dänen handelte es sich um einen Zentimeter seiner Fußspitze, mit dem er im Abseits stand. Diese Semi Automatic Offside Technology (SAOT) visualisiert die Entscheidungen in Echtzeit durch 3D-Animationen, die den Schiedsrichtern und Zuschauern gezeigt werden – dem Schiedsrichter optional auf einem Display am Spielfeldrand, den Zuschauern auf den Großbildschirmen im Stadion.

Datenzentrale in Leipzig

Die in den Stadien gesammelten Daten laufen dann im Football Technologies Hub in Leipzig zusammen, wo sich auch die Zentrale des VAR befindet. Nach der Erfassung dieser Daten erfolgt nach Angaben der Uefa eine Livequalitätskontrolle, bevor die Informationen an relevante Systeme weitergeleitet werden. Dazu gehört beispielsweise die zuvor erwähnte halbautomatische Abseitstechnologie.

Insgesamt wurden vier Videoräume ausschließlich für VAR-Zwecke konzipiert. Jeder dieser Räume ist mit modernster Technik ausgestattet und bietet Raum für ein Team bestehend aus einem VAR, zwei VAR-Assistenten beziehungsweise Assistentinnen sowie drei Replay-Operateuren beziehungsweise -Operateurinnen, die während der Spiele in Echtzeit Videoaufnahmen analysieren und bewerten. Am Aufwand und der Technik dürfte es also nicht scheitern.

Kein Zweifel an der Entscheidung

Dass sich Teile der Fußballwelt über die Entscheidungen des VAR gegen Dänemark aufgeregt haben, kann Bernhard Brugger nicht nachvollziehen. Der 57-jährige Salzburger war zwölf Jahre lang für die Fifa und die Uefa als Schiedsrichter im Einsatz und hält beim Abseits am Ergebnis fest, auch wenn es noch so klein und mit dem menschlichen Auge nicht mehr wahrzunehmen war, denn: "Was wäre gewesen, wenn der Schiedsrichter das Tor gezählt hätte? Dann hätten sich gerade wegen VAR die Deutschen aufgeregt." Er könne die Position der Dänen schon nachvollziehen und wäre an ihrer Stelle auch sauer, "aber ob ein Spieler einen Zentimeter im Abseits steht oder zwei Meter, ist nach Regelauslegung egal".

Diesen Bildschirm hat man bei der EM oft gesehen.
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Vermittlungsprobleme

Ein wenig anders sieht Brugger die Situation beim Handspiel von Andersen. Zwar sei die Strafstoßentscheidung für ihn auch "glasklar" – das habe aber nichts mit der Technologie zu tun, sondern schlichtweg mit dem Befolgen der Regeln, die das Fifa-Board den Schiedsrichtern vorschreibe. Und "eine unnatürliche Handbewegung des Abwehrspielers, die zur verfälschten Flugbahn einer Flanke führt, bleibt ein strafbares Handspiel", sagt der ehemalige Schiedsrichter. Als derzeitiger Beobachter beim DFB sei auch er mitunter überrascht, welche Beurteilungen die Uefa bei theoretischen Beispielen für ein Handspiel vorgibt.

Die Problematik sieht er in diesem Zusammenhang vor allem darin, diese Regeln den Fußballern und der Öffentlichkeit zu vermitteln, besonders weil die Auslegungen über die einer Absichtserkennung hinausgehen und komplexere Aspekte umfassen. Dies führt oft zu Missverständnissen, da viele Beteiligte noch immer die einfacheren Regeln aus der Vergangenheit anwenden würden. Das gelte im Übrigen auch für die Schiedsrichter, die sich an das aktuelle, wenngleich umstrittene Regelwerk halten müssen.

Diskussionsstoff bleibt

Auch wenn Brugger aus seinem Umfeld weiß, dass der VAR "hundertprozentig bleiben wird", räumt er ein, dass es noch Verbesserungsbedarf gibt, den selbst Fußballverbände sehen. Vor allem betrifft das den stotternden Spielfluss, der sich durch den VAR ergeben kann. "Mit dem Ablauf, wie der VAR eingreift, ist man noch unzufrieden, weil das alles einfach noch zu lange dauert", sagt Brugger. Unterbrechungen von drei, manchmal vier Minuten würde weder die Fifa noch die Uefa wollen. Hier werde man mit Prozessoptimierung und später auch mit neuer Technologie laufend nachbessern.

Insgesamt gesehen sei der VAR nach Ansicht des 57-Jährigen aber schon sehr zu begrüßen, weil er dem Schiedsrichtergespann enormen Druck nimmt. "Bei klaren Fehlwahrnehmungen oder Fehlentscheidungen darf der Schiedsrichter zu VAR greifen, über diese Hilfestellung sind die Kollegen sehr happy", sagt Brugger. Optimistisch gesehen bleibt im Prinzip eine Win-win-Situation für Stammtische und die Unparteiischen auf dem Spielfeld: Einen Grund für Diskussionen wird es weiterhin geben – der Schuldige, über den man sich aufregen kann, ist jetzt eben ein anderer. (bbr, 5.7.2024)