Ralf Rangnicks Leidenschaft für das Nationalteam ist ungebrochen. Er denkt schon an die nächsten Aufgaben.
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Es war eine kollektive Leere, ein Gefühl der Sinnlosigkeit, der Sprach- und Fassungslosigkeit. Die Blicke waren durchdringend, obwohl sie doch aneinander vorbeischauten. In der Nacht auf Mittwoch, es war ein Uhr früh, mussten die Spieler der österreichischen Fußballnationalmannschaft noch einmal in den Bus steigen, von Leipzig nach Berlin fahren. Nach zweieinhalb Stunden sind sie im Hotel Grunewald eingetroffen. Die meisten sind am Einschlafen gescheitert.

Am Vormittag gab der ebenfalls geschlauchte Teamchef Ralf Rangnick aufmunternde Sätze von sich. In der Kabine, unmittelbar nach dem 1:2 gegen die Türkei, hatte er eher geschwiegen. Es wäre nahezu absurd gewesen, Reden zu schwingen, "Kopf hoch" zu sagen. Auch eine interne Aufarbeitung bedarf des richtigen Zeitpunkts. Dem Schmerz muss die Gelegenheit gegeben werden, sich zu entfalten, ebenso den Wunden, zu verheilen. Tränen trocken im Fußball mitunter langsam. Rangnick war fest davon überzeugt, dass "wir noch länger in Berlin bleiben, am Samstag im Olympiastadion das Viertelfinale gegen die Niederlande bestreiten". Sie hätten sich im Stadion "Auf dem Wurfplatz" präzise vorbereitet. Die Türkei hat das verhindert, den "Wurfplatz" werden sie wohl nie wieder betreten.

Statistik täuscht

Eigentlich hat es Österreich selbst verhindert, die Torschussbilanz lautete 21:6. Im März, beim 6:1 im Test in Wien, wurde seltener geschossen, aber viel öfter getroffen. Die Leipziger Statistik wies einen xG-Wert ("expected goals") von 2,74 gegenüber 1,06 bei den Türken aus. Die Erklärung für das Scheitern war relativ einfach, der 66-jährige Rangnick sagte: "Wir haben aus den vielen Chancen zu wenig gemacht, hätten präziser abspielen sollen. Und dann haben wir zwei Eckbälle nicht gut verteidigt." Merih Demiral hatte beide Treffer nach Cornern erzielt. "Wie wir nach dem 0:2 zurückgekommen sind, schaffen nicht viele Mannschaften."

Andererseits ist Österreich dann doch im Achtelfinale gescheitert, das schafften sieben andere auch. Es bleiben also noch das 0:1 gegen Frankreich, das 3:1 gegen Polen, das 3:2 gegen die Niederlande, der Sieg in einer extrem schwierigen Gruppe. Rangnick: "Es waren vier megaunterhaltsame Spiele, megaintensiv. Dagegen gab es andere Spiele, wo ich vor dem TV Mühe hatte, mich wach zu halten."

Kampf um Lostopf eins

Kein Sorge, der Trainer wechselt schon nicht zu Bayern München. Nach dem Großereignis ist vor dem Großereignis, die WM 2026 in Nordamerika naht. Rangnicks Vertrag gilt bis Ende der Quali, bei der Teilnahme würde er sich automatisch verlängern, dagegen könnten die Bayern nichts tun. "Ich glaube, wir haben sehr gute Chancen, uns auch für die Weltmeisterschaft zu qualifizieren."

Als WM-Geheimfavorit gilt Österreich nicht, EM-Geheimfavorit hat gereicht. Die Quali geht erst 2025 über die Bühne, aktuell wäre Österreich als eines von zwölf Teams in Topf eins gesetzt. Im Herbst soll das in Nations League B je zweimal gegen Slowenien, Norwegen und Kasachstan bestätigt werden. Da ist Österreich Favorit ohne geheim. "Wir sind in Topf eins. Da wollen wir unbedingt bleiben, um uns nach vielen, vielen Jahren für eine WM zu qualifizieren." Frankreich 1998 ist lange her.

Die EM in Deutschland war zwar keine Kurzgeschichte, sie hätte aber durchaus länger dauern dürfen. Um die Sache noch einmal zu vereinfachen, sei Folgendes erwähnt: Christoph Baumgartners Kopfball in der Nachspielzeit wurde von Goalie Mert Günok sensationell abgewehrt. Die Parade erinnerte an jene von Gordon Banks, der legendäre englische Keeper entschärfte bei der WM 1970 auf spektakuläre Weise einen Kopfball des noch legendäreren Brasilianers Pelé. Diese Szene gilt bis heute als "Abwehr des Jahrhunderts". Rangnick bejahte die Frage, ob er Parallelen zwischen den Taten von Banks und Günok sehe. Baumgartners Gelegenheit wurde ein xG-Wert von 0,94 zugeschrieben, das heißt, in 94 von 100 Fällen würde er sitzen. Aber Baumgartner hatte nur einen Versuch.

Spätestens, wenn David Alaba ins Team zurückkehrt, werden Christoph Baumgartners Tränen getrocknet sein.
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Perspektive passt

Um die Mannschaft muss man sich keine Sorgen machen. Teamgeist, Einstellung und Spielstil passen. Einige sind noch lange nicht am Zenit, die Liste ist lang. David Alaba wird irgendwann zurückkehren. Die Breite ist enorm, einzig im Angriff schöpft man nur aus dem Halbvollen. Marko Arnautovic ist 35 Jahre alt, die Niederlage gegen die Türkei könnte das 116. und letzte Spiel des Rekordinternationalen gewesen sein. Er überlegt noch, perspektivisch betrachtet ist es aber vorbei.

Eine wesentliche, nicht zuletzt gesellschaftspolitische Erkenntnis der EM lautet: Das Team hat die Herzen der Fans erobert, es wird geliebt, steht für Weltoffenheit und Toleranz. Im Gegensatz zum türkischen Doppeltorschützen Demiral, dem "Man of the Match", der den Wolfsgruß, ein Handzeichen und Symbol der türkischen rechtsextremen und ultranationalistischen Organisation Graue Wölfe zeigte.

Der Abschied vom Team und Marcel Sabitzer dürfte dem Rekordinternationalen Marko Arnautovic schwerfallen.
APA/dpa/Robert Michael

Wie begrüßenswert im Vergleich dazu die Aussagen des österreichischen Torschützen Michael Gregoritsch: "So vereint hatte Österreich eine Fußballmannschaft noch nie. Die Botschaft in ganz Österreich und Europa ist, dass man sich nicht auseinandersetzen soll mit Differenzierung und rechten Gedanken, sondern vereint und stolz und glücklich sein."

Es gibt möglicherweise wichtigere Dinge als ein EM-Viertelfinale. Gregoritsch: "Wir lassen die Köpfe nicht hängen." (Christian Hackl aus Leipzig, 3.7.2024)