Karl Nehammer beim Friedensgipfel in der Schweiz. Die Neutralität stellt er weiterhin nicht zur Diskussion. Er hofft auf weitere Friedensinitiativen mit Unterstützung der Brics-Staaten.
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Bundeskanzler haben straffe Zeitpläne. Für Fußballspiele erfolgreicher Nationalmannschaften räumt die Spitzenpolitik aber gerne Zeit ein und kostet die Gratis-PR im Windschatten der Teams aus. Umgekehrt warnt der Teamchef hierzulande auch davor, auf dem rechten Auge blind zu sein. Weil jedenfalls auch die knappe Stunde Flugzeit von Wien nach Leipzig maximal ausgenutzt werden will, teilte sich die Kurzstrecke für Kanzler Karl Nehammer in einen kurzen Powernap und ein STANDARD-Interview zu den drängendsten Fragen der Welt- und Innenpolitik auf. Der Fußball-Smalltalk wurde auf den Landeanflug nach dem Gespräch verlegt, Interviewender wie Interviewter lagen mit ihren Tipps in hoffnungsvoller Erwartung falsch.

STANDARD: Herr Bundeskanzler, Ihr Brief an die belgische Ratspräsidentschaft wegen des Renaturierungsgesetzes und der folgende Regierungskrach haben in Brüssel nicht das beste Bild hinterlassen. Wie waren die Reaktionen? Tragen Sie dafür Verantwortung?

Nehammer: Die Brüsseler Bürokratie kann mit 27 Mitgliedsstaaten und ihren verschiedenen Koalitionsvarianten gut umgehen. Da ist man gewohnt, dass es zu Unstimmigkeiten in Koalitionen kommen kann. Als Bundeskanzler war mir hier wichtig aufzuzeigen, dass die Umweltministerin Leonore Gewessler nicht die Regierungsmeinung vertritt. Sie ist per Gesetz verpflichtet, Einigkeit herzustellen. Sie hat sie nicht hergestellt. Es wäre verantwortungslos gewesen, die Kommission nicht darauf hinzuweisen.

STANDARD: Fehlte Ihnen der Mut, den Bundespräsidenten um Gewesslers Entlassung zu bitten, oder war das Wahlkampftaktik?

Nehammer: Keines von beidem. Es war Verantwortungsbewusstsein für die Menschen, um diese seltsamen Allianzen im freien Spiel der Kräfte und die milliardenschweren Wahlzuckerln zu verhindern, die die Menschen oft noch jahrzehntelang belasten.

STANDARD: Konsequenterweise müssten Sie auch Harald Mahrer dafür rügen, dass er 2017 als ÖVP-Wirtschaftsminister einem Kompromiss beim sogenannten Dienstleistungspaket zustimmte, trotz einer einheitlichen Länderstellungnahme dagegen.

Nehammer: Der Unterschied zur Vorgehensweise bei Harald Mahrer war, dass es damals eine einheitliche Position der Bundesregierung gab und Länderkompetenz nur in Teilbereichen berührt war. Im Gesetz ist vom Verfassungsdienst klar geregelt, wann Einvernehmen herzustellen ist, nämlich dann, wenn verschiedene Ministerien betroffen sind, die aufgrund der kompetenzübergreifenden Situationen auch selbstständig Gesetze erwirken müssen. Es gibt Themenfelder, die betreffen Ressorts, da muss man die Ressorts nur informieren. Aber sobald ein anderes Ministerium Gesetze ändern muss, muss man eben Einvernehmen herstellen. Das ist nicht erfolgt – auch zum Schaden Österreichs, denn die Volkspartei und wir in der Regierung sind für Umweltschutz und Naturschutz. Österreich ist hier ein Vorzeigeland. Gleichzeitig wollen wir aber vermeiden, dass die Bauern und Bäuerinnen, die von dem Land leben, auf dem sie arbeiten, und genau wissen, wie sie mit diesem Land umzugehen haben, überreguliert werden wie im Falle der Renaturierungsverordnung. Es gibt Staaten in der Europäischen Union mit großen Umweltproblemen, die besondere Schutzmaßnahmen brauchen, aber Österreich hat diese schon.

STANDARD: Das ist dann aber schon beinharte Klientelpolitik, wenn mehr als 80 Prozent der Österreicher für das Gesetz sind.

Nehammer: Es ist keine Politik für bestimmte Gruppen, sondern eine Politik der Vernunft. In Salzburg sind nur 20 Prozent der Fläche nutzbar für Wohnen, Wirtschaft und Landwirtschaft, also auch Lebensmittel und Versorgungssicherheit. Da braucht man nicht noch neue Vorschriften, die tatsächlich nichts Gutes bewirken. Die von Ihnen zitierte Umfrage wurde übriges von einer NGO beauftragt, das halte ich nicht für objektiv.

Erschwerte Interviewbedingungen in der lauten Propellermaschine nach Leipzig.
BKA / Andy Wenzel

STANDARD: Angenommen, wir machen Tabula rasa, und Vergangenheit ist Vergangenheit: Wie würden Sie die österreichische Sicherheitspolitik aufstellen, wie Österreich verteidigen?

Nehammer: Österreich ist ja ein neutrales Land ...

STANDARD: Nein, ein Gedankenexperiment, in dem wir nicht schon seit 70 Jahren neutral sind und alle europäischen Staaten ihre Sicherheitspolitik neu aufstellen könnten.

Nehammer: Als Bundeskanzler ist man gefordert, in der Realität zu arbeiten. Und da sind wir militärisch neutral, aber vollumfassend Teil der Europäischen Union. Mir ist wichtig, dass wir den Schritt geschafft haben, am Raketenschild Sky Shield teilzunehmen, dass wir in der Lage sind, uns gemeinschaftlich gegen neue Bedrohungslagen verteidigen zu können. Außerdem haben wir als Bundesregierung ein Milliardenprogramm zur Nachrüstung des österreichischen Bundesheeres beschlossen, um die Selbstständigkeit der Verteidigung auch zu verwirklichen. Ich stehe zur österreichischen Neutralität. Weil die Neutralität hilfreich ist, wenn man als Österreich außerhalb der EU wirkt, gerade im Gespräch mit Nato-skeptischen Staaten.

STANDARD: Geben Sie mir ein Beispiel: Wo hat die Neutralitätspolitik für die Österreicherinnen und Österreicher etwas Positives bewirkt? Wo konnten wir unsere oft propagierte Brückenbauerfunktion ausspielen, abseits von Wien als Sitz multilateraler Organisationen?

Nehammer: Die Iran-Gespräche finden in Österreich statt ...

STANDARD: Weil die IAEA in Wien ihren Sitz hat.

Nehammer: Genau das ist der Punkt. Wären wir nicht ein neutrales Land, wären wir nicht Brückenbauer, hätten wir nicht 52 internationale Organisationen und einen Hauptsitz der Uno in Österreich.

STANDARD: Glauben Sie, die würden abziehen, wenn wir nicht militärisch neutral wären?

Nehammer: Das müsste man dann mit den Vereinten Nationen klären. Für mich steht die Neutralität aber ohnehin nicht zur Debatte. Aber man muss den Menschen erklären, warum die Neutralität wertvoll ist: weil wir Teil einer wirtschaftlich starken Union, aber in keinem Militärbündnis sind. Für afrikanische, lateinamerikanische und asiatische Staaten sind wir dadurch ein interessanter Ansprechpartner. Weil wir nicht per se in die Schublade Nato-Staat passen.

Nehammer sagt, dass neben der Solidarität mit der Ukraine auch stets an einem Verhandlungsfeld für den Frieden gebaut werden müsse.
EPA/OLIVIER MATTHYS

STANDARD: Während sich Emmanuel Macron gegenüber Moskau in strategischer Ambiguität übt, sich nicht in die Karten schauen lässt, zieht unsere Verteidigungsministerin ungefragt stellvertretend für den Westen und die Nato rote Linien im Ukraine-Konflikt. Klaudia Tanner lief damit ins offene Messer der Kreml-Propaganda.

Nehammer: Wie die Waffen eingesetzt werden, ist die freie Entscheidung jener Staaten, die der Ukraine Waffen liefern. Worauf die Verteidigungsministerin hingewiesen hat, ist die Eskalationsgefahr. Ich halte es für angebracht, über diese Eskalationsspirale zu sprechen, und halte es für wichtig, Möglichkeiten eines Friedens auszuloten. Wir haben die Schweiz unterstützt bei ihrer Friedenskonferenz. Aber auch wenn wir noch nicht so weit sind, ist es neben der solidarischen Unterstützung der Ukraine auch wichtig, an einem möglichen Verhandlungsfeld für den Frieden zu bauen.

STANDARD: Angenommen, Donald Trump wird im November wieder US-Präsident. Es droht, dass er der Ukraine einen Friss-oder-stirb-Frieden vorlegt. Kann man Putin das durchgehen lassen?

Nehammer: Wenn die US-Wahlen stattgefunden haben werden, wird man sehen, welche Administration sich etabliert. Die USA sind eine militärische und wirtschaftliche Supermacht und immer ein wichtiger Player, wenn es um Krieg oder Frieden geht. Aber auch die Brics-Staaten sind wichtige Partner, also Brasilien, Indien, China, Südafrika. Und ich baue sehr stark auf Indien.

STANDARD: Der indische Premierminister Narendra Modi besucht Sie kommende Woche. Was erwarten Sie sich von seinem Besuch?

Nehammer: Ja, das ist ein wichtiger Besuch zum richtigen Zeitpunkt. Zum ersten Mal seit 41 Jahren besucht ein indischer Premierminister Österreich. Für Premierminister Modi ist es die erste Reise in unser Land. Österreich und Indien feiern 2024 das 75-jährige Bestehen ihrer diplomatischen Beziehungen, uns verbindet eine freundschaftliche Partnerschaft. Indien ist ein beeindruckendes Land, es ist die größte Demokratie der Welt. Wir werden die wirtschaftlichen Beziehungen intensivieren. Und vor allem ist es mir wichtig, mit den Brics-Staaten auf Augenhöhe zu sprechen. Sie spielen im Ukrainekrieg eine besondere Rolle. Putin hört ihnen zu. Und ich werden meine Friedensbemühungen, die bei der Konferenz in der Schweiz begonnen haben, weiterführen.

STANDARD: Globale Medien sehen Wien als Spionage-Hub, dennoch greifen wir Russland noch immer mit Samthandschuhen an. Nehmen Sie diesen Reputationsverlust bewusst in Kauf?

Nehammer: Ich erlebe es als Bundeskanzler genau umgekehrt. Wenn ich mich mit anderen Regierungschefs treffe oder mit Vertretern fremder Nachrichtendienste Kontakt habe, wird uns sehr viel Respekt gezollt für unseren Umgang mit Spionage und Russland. Wir sind solidarisch in Sachen Sanktionen und Friedensfazilität. Was allerdings immer eine Sondersituation sein wird, ist, dass man als Sitz von 52 internationalen Organisationen automatisch ein Stück verletzlicher ist, was Spionagetätigkeit betrifft, weil viele unter dem Deckmantel diplomatischen Schutzes aufgrund einer Scheinidentität bei der jeweiligen internationalen Organisation einreisen. Gleichzeitig kämpfen wir aber auch dort gegen russische Spionage, wo sie auftritt, und haben auch schon Diplomaten ausgewiesen.

Immer wieder zeigte sich Nehammer mit Ungarns Premierminister Viktor Orbán. Die Themenlage war meist von Migration dominiert.
APA/GEORG HOCHMUTH

STANDARD: Ihr ehemaliger Parteifreund Viktor Orbán macht jetzt gemeinsame Sache mit der Kickl-FPÖ und will im Stile Donald Trumps Europa "great again" machen. Hat man mit Orbán aufs falsche Pferd gesetzt?

Nehammer: Auf parteipolitischer Ebene haben sich die rechtsrechten Parteien in der Europäischen Union immer wieder zu neuen Bündnissen zusammengeschlossen. Auf regierungspolitischer Ebene habe ich die Verantwortung, ordentliche und tragfähige Beziehungen besonders zu unseren Nachbarn herzustellen und somit für Stabilität zu sorgen. Uns ist es gelungen, die illegalen Grenzübertritte von Ungarn nach Österreich um 93 Prozent zu reduzieren. Es braucht pragmatische regierungspolitische Zusammenarbeit, auf die parteipolitisch-taktische Manöver, wie sie gerade passieren, keinen Einfluss haben dürfen.

STANDARD: Die rechten Parteien Europas schaffen es immer wieder, den Diskurs zu diktieren, auch Ihre ÖVP übernahm Themen von Migration über Bargeld bis zum Verbrennungsmotor.

Nehammer: Ich sehe das anders. Es sind politische Themen der Mitte, die immer wieder von Radikalen rechts und links gekapert werden. Ich als politische Kraft der Mitte will Themen, die die Menschen bewegen, nicht den Radikalen überlassen: illegale Migration, das Geschäftsmodell der organisierten Kriminalität, dass sich Frauen im öffentlichen Raum sicher bewegen können. Österreich ist auch ein Exportland, ein Autoland. Jeder zweite Arbeitsplatz hängt an der Industrie. Es braucht daher keine Verbote, sondern Forschungsfreiheit. Der große Unterschied zwischen den Radikalen und den Parteien der Mitte wie der Volkspartei ist, dass wir nicht von Problemen leben, sondern sie lösen.

STANDARD: Aber eine Übernahme der Themen der Rechten hat noch selten einer Mitte-rechts-Partei geholfen. Während Rechtsparteien europaweit reüssieren, haben Sie bei der EU-Wahl eine Niederlage eingefahren, Sie schwächeln in Umfragen, es droht im Herbst ein klares Minus.

Nehammer: Die EU-Wahl zeigt diese zwei Tangenten. Die Menschen haben nach wie vor Angst und zeigen mit ihrer Stimmabgabe, dass wir sie in ihren Sorgen ernst nehmen müssen. Die zweite Tangente: Der Abstand zwischen uns und der FPÖ bei der Europawahl war 0,8 Prozent. Die Bäume der Rechtsrechten wachsen nicht gerade in den Himmel.

STANDARD: Sie haben zehn Prozentpunkte verloren.

Nehammer: Deshalb ist das Ergebnis ernst zu nehmen, aber es zeigt auch, dass es noch möglich ist, Menschen mit einer Politik der Mitte zu erreichen.

STANDARD: Hans Peter Doskozil legt Andreas Babler bei einem Minus den Rücktritt nahe. Ich nehme an, es gibt in der ÖVP Personen, die das ähnlich sähen, falls Sie ein Minus einfahren.

Nehammer: Ich sage mit Dankbarkeit, dass die ÖVP noch nie so geschlossen war wie jetzt, ich habe große Unterstützung. Allen ist bewusst, dass wir den Erfolg gemeinsam erarbeiten können und die Bedrohung von den radikalen Rändern so groß ist wie noch nie. Ich gehe auch davon aus, dass wir als Erster durchs Ziel gehen können, weil wir das richtige Angebot für die Menschen haben.

STANDARD: Wer ist eigentlich Ihr außenpolitisches Vorbild? Zu welchen aktiven Politikern sehen Sie hoch?

Nehammer: Ich orientiere mich gerne an historischen Persönlichkeiten. Konrad Adenauer und Helmut Kohl waren faszinierend, aber auch der Sozialdemokrat Helmut Schmidt. Genauso faszinierend waren Charles de Gaulle und Margaret Thatcher. Ich lese gerne Biografien von Politikern. Henry Kissinger hat mir seine noch in New York persönlich übergeben, und es war zutiefst beeindruckend, mit einem Mann zu sprechen, der so viele historische Momente als Politiker und Berater begleitet hat. Es ist wichtig, neugierig zu bleiben und Lösungsansätze zu studieren, woher auch immer sie kommen.

Direkte Kritik aus Wien muss "Freund" Benjamin Netanjahu nur selten fürchten.
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STANDARD: Österreichs historische Verantwortung gegenüber Israel ist Staatsräson. Man hört vom offiziellen Österreich aber wenig Kritik an Benjamin Netanjahu und der Vorgehensweise seiner rechten bis rechtsextremen Regierung im Gazakrieg.

Nehammer: Österreich hat aufgrund seiner Geschichte tatsächlich eine besondere Verantwortung für Israel. Und Österreich hat auch immer eine besondere Verantwortung für die Palästinenser gelebt. Und dieser Verantwortung werden wir aus meiner Sicht auch gerecht. Wir sind im vollen Umfang solidarisch mit Israel im Kampf gegen die Hamas und helfen, wo wir können. Israel hat auch uns geholfen, als wir von einem Terroranschlag getroffen wurden und die innere Sicherheit wiederherstellen mussten. Auf der anderen Seite unterstützen wir die Palästinenserinnen und Palästinenser durch Direkthilfe im Gazastreifen. Beim Gaza-Konflikt wie beim Russland-Ukraine-Konflikt aber gilt: Der Aggressor könnte sofort den Konflikt beenden. Österreich steht für die Zweistaatenlösung. Österreich kritisiert, wenn Gewalt von Siedlern gegenüber Palästinensern ausgeübt wird. Aber Israel wurde angegriffen, und die Hamas ist der Verursacher von Leid und Schrecken und Tod. Das gehört benannt. Da muss man auch Haltung zeigen.

STANDARD: Man kann voll solidarisch mit Israel sein und Netanjahu für seine Politik kritisieren.

Nehammer: Aber Österreich hat die gute Tradition, sich nicht in die innenpolitische Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen. Unrecht benennen wir. Und der Angriff vom 7. Oktober, den die Hamas durchgeführt hat, die Verschleppungen, die Vergewaltigungen und Schändungen von Frauen waren großes Unrecht.

STANDARD: Sehen Sie auch Unrecht in der aktuellen Kriegsführung Israels?

Nehammer: Wir haben immer gesagt, dass das humanitäre Völkerrecht einzuhalten ist. Gleichzeitig muss man eben darauf hinweisen, dass die Hamas gezielt militärische Einrichtungen unter zivilen Einrichtungen errichtet. Dieses Tunnelsystem ist bewusst unter Spitälern, Schulen und Kindergärten angelegt, um zivile Opfer zu provozieren. Deswegen bin ich so klar in dieser Frage. (Fabian Sommavilla, 5.7.2024)