"Gerade bei jüngeren Menschen auf Sinnsuche, die ein Loch in ihrem Herzen füllen wollen, hat es eine ganz andere Dynamik, ob dein Idol so etwas postet", sagt der ehemalige Sprecher der Islamischen Glaubensgemeinschaft, Ruşen Timur Aksak.
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Am liebsten würde Merih Demiral noch öfter seine Hände in die Höhe reißen und seine Finger zu einem Wolf formen. Daraus machte Demiral keinen Hehl, nachdem er gegen Österreich doppelt getroffen hatte und im Nachgang darauf angesprochen wurde. Das allerdings hätte zu bedeuten, dass sich der türkische Nationalspieler noch einmal vor einem Millionenpublikum mit einem offen rechtsextremen Symbol präsentieren würde: dem in Österreich verbotenen Wolfsgruß.

Auch bei den türkischen Autokorsos, die hupend und mit Nationalflaggen bestückt durch Wien fuhren, formte manch einer seine Hände zum Symbol der türkischen Rechtsextremen. Aber was löst das unter Türkinnen und Türken aus? DER STANDARD hat sich umgehört.

Die Dynamik des schlechten Vorbilds

Der Wolfsgruß allein sei keine Herausforderung, sagt etwa Ruşen Timur Aksak. Der ehemalige Sprecher der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) sieht das größte Problem vor allem darin, dass das Symbol der türkischen Faschisten von Idolen vieler Jugendlicher weichgewaschen werde. Ob nun von Merih Dermiral vor einem Millionenpublikum oder etwa auch von Ex-Fußballstar Mesut Özil, der allein auf Instagram mehr als 28 Millionen Anhänger hat.

Özil, ein Deutschtürke aus dem Ruhrgebiet, war einst ein begnadeter Kicker. Er spielte für die deutsche Nationalmannschaft, wurde Weltmeister. Zu seinen Spitzenzeiten streifte Özil das Trikot von Real Madrid oder des FC Arsenal über seinen durchtrainierten Körper. Özil galt lange als Beispiel für gelungene Integration.

Merih Demiral beim Jubel mit dem rechtsextremen
Will hinter seiner Jubelgeste keine "versteckte Botschaft" erkennen: Merih Demiral.
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Jedenfalls so lange, bis er sich 2018 in London mit dem türkischen Premier Recep Tayyip Erdoğan fotografieren ließ – weshalb in seinem Geburtsland Deutschland ein Schwall an Kritik über ihn hereinbrach. Özils Entfremdung mit Deutschland begann und mündete darin, dass er sich das Symbol der Grauen Wölfe auf seine linke Brust tätowieren ließ.

"Wenn jemand wie Özil damit für die Grauen Wölfen wirbt, dann legitimiert er sie, macht sie cool", sagt Aksak. "Gerade bei jüngeren Menschen auf Sinnsuche, die ein Loch in ihrem Herzen füllen wollen, hat es eine ganz andere Dynamik, ob dein Idol so etwas postet oder sie einen Politiker mit Wolfsgruß in den Nachrichten sehen. Den Aspekt des Fußballers als schlechtes Vorbild darf man nicht unterschätzen."

Im Hinblick auf die türkische Community in Österreich macht Aksak gleich mehrere Probleme aus: Die Grauen Wölfe seien mit der Avusturya Türk Federasyon als Moscheeverband in der Islamischen Glaubensgemeinschaft vertreten. Dieses "Mitschwimmen" auf offizieller Ebene verleihe der Gruppierung eine gewisse Legitimität. Von den übrigen türkischen Verbänden mit Draht nach Ankara gebe es keinerlei Gegenwind, obwohl die zutiefst nationalistische Ideologie der Grauen Wölfe nicht nur antidemokratisch, sondern sogar integrationshemmend sei. Das sei ein riesiges Problem.

"Und was sollen sich Kurdischstämmige und Alevitischstämmige denken, wenn ein Autokorso durch Wien fährt und jemand den Wolfsgruß zeigt?", fragt Aksak – nicht ohne Grund. Kurden und Aleviten werden von den türkischen Nationalisten seit jeher verfolgt. Aksak: "Wer so eingestellt ist, kann das in der Türkei tun, aber in Österreich geht sich das einfach nicht aus."

Die Wölfe als türkische "Staatsräson"

Da setzt auch Kenan Güngör an. Kurdische und türkische Freunde des Wiener Soziologen hätten beim Fußballspiel am Montagabend gemeinsam mitgefiebert – und seien von Demirals Jubel gleichermaßen angewidert gewesen. Andererseits seien gerade Länderspiele ein guter Boden für nationalistische bis ultranationalistische Parteien.

Das Problem sei, dass die Rechtsextremen in der Türkei mittlerweile "zur Staatsräson" gehören würden, sagt Güngör. Auch wenn die Grauen Wölfe nicht direkt in der ultranationalistischen Regierung Erdoğans vertreten seien, seien sie nicht zuletzt durch eine politische Annäherung von Erdoğans AKP in der Türkei permanent präsent. Ihre Symbole hätten daher keinerlei "Nimbus des Illegalen".

Das habe eine Auswirkung auf die Diaspora, sagt Güngör. Die Community verfolge die türkische Innenpolitik natürlich und sehe: Was in Österreich verboten sei, gehöre in der Türkei zur Leitkultur. "In diesem Spalt leben die jungen Türken hier." Gerade unter ihnen falle in größeren Gruppen die Hemmschwelle, den Wolfsgruß zu zeigen. Eben weil das Symbol in der Türkei ein gängiges ist. Hinzu komme, dass die Gastarbeitergeneration einst in türkischen Regionen aufgewachsen sei, die konservativ bis ultranationalistisch geprägt seien. Das reduziere die Hemmschwelle gegenüber den Grauen Wölfen.

Auch mythologisches Symbol

Die aus der Türkei stammende Islamwissenschafterin und Historikerin Fatma Akay-Türker weist auf zwei Bedeutungsebenen des Wolfsgrußes hin – eine politische und eine mythologische. "Ich kämpfe seit Jahren gegen Rechtsextremismus, religiösen Extremismus und Faschismus – und da ist der Wolfsgruß, wie ihn die Grauen Wölfe, also die Anhänger der MHP, der rechtsextremen türkischen Partei der Nationalistischen Bewegung, verwenden, eindeutig ein rechtsextremes politisches Zeichen, das mit Nachdruck abzulehnen ist", sagt die ehemalige Frauensprecherin der IGGÖ im STANDARD-Gespräch.

Sie war ursprünglich selbst von der Türkischen Föderation, dem Moscheeverband der MHP, für den Obersten Rat der IGGÖ nominiert worden, hat diese Verbindung aber komplett gekappt: "Ich hielt die Föderation damals für liberal und säkular. Das ist sie nicht. Ich distanziere mich aufs Schärfste von ihr."

Als Historikerin, die zur türkischen Geschichte promoviert hat, sagt Akay-Türker allerdings auch: "Den Wolfsgruß allein der rechtsextremen Gruppe zuzuordnen wäre nicht ganz richtig. Wie der Adler für Österreich, der gallische Hahn für Frankreich, der Löwe für England und der Stier für Spanien eine zentrale Rolle in der nationalen Identität spielen, hat auch der Wolf, konkret die Wölfin, für Türkinnen und Türken weltweit eine besondere mythologische und kulturelle Bedeutung. Der Legende nach stammt das Volk der Türken von der Wölfin Asena ab. Sie ist für viele ein symbolträchtiges Zeichen ohne politischen Subtext", erklärt Akay-Türker.

Der Wolf sei seit dem Hunnenreich in Mittelasien bis hin zur Gründung der modernen Türkei immer wieder als Symbol verwendet worden und zu einem "untrennbaren Bestandteil der türkischen Geschichte und Kultur" geworden: "Er steht für die Unabhängigkeit und Freiheit des türkischen Volkes", sagt die Historikerin. Diese mythologische Bedeutungsebene, die für alle Turkvölker auf der Welt wichtig sei, sei von den Rechtsextremen "gekapert und instrumentalisiert" worden.

Türkischer Botschafter will Uefa-Verfahren abwarten

Der türkische Botschafter in Österreich, Ozan Ceyhun, will sich auf Anfrage zur Causa Demiral nicht äußern. Es gelte jetzt einmal das Verfahren des Fußballverbands Uefa gegen den Kicker abzuwarten. Dass der Wolfsgruß in Österreich verboten ist, sieht Ceyhun allerdings kritisch. Er verweist auf eine Presseaussendung des türkischen Außenministeriums, in dem das Verbot deshalb bemängelt wird, weil damit eine legale Partei seither auf einer Stufe mit der terroristischen kurdischen Arbeiterpartei PKK stehe.

Die Islamische Glaubensgemeinschaft selbst sieht sich nicht dafür zuständig, Jubelgesten von Fußballern zu kommentieren. Hinsichtlich des Wolfsgrußes bekennt sich die IGGÖ aber zum Verbot. Parteipolitische und nationalistische Einflussnahme oder Propaganda würden nicht toleriert. Deshalb sei es beispielsweise in der Vergangenheit zu einer Aufsplitterung innerhalb der Türkischen Föderation gekommen, um die Kontrolle "über die Verbreitung der islamischen Glaubenslehre" zu wahren. (Jan Michael Marchart, Lisa Nimmervoll, 3.7.2024)