Haitianische und kenianische Polizisten patrouillieren offenbar auf den Straßen bereits gemeinsam.
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Während die bewaffneten Gangs die Hauptstadt Haitis kontrollieren, den Zugang der Bevölkerung zu Hilfsmitteln blockieren und die Demokratie im Würgegriff halten, soll aus Kenia ein kleiner Hoffnungsschimmer erscheinen. In Form von hunderten Polizeikräften, die im Rahmen einer internationalen Polizeimission (MSS) den haitianischen Kolleginnen und Kollegen unter die Arme greifen sollen. Auf den ersten Blick sieht es nach einem ausgezeichneten Plan aus: Haiti kommt selbst gegen die mafiösen Strukturen im Land nicht mehr an und holt sich Hilfe aus dem Ausland. Doch so einfach ist es nicht, denn die Polizeimission offenbart auf den zweiten Blick doch viele Lücken.

Geschaffen wurde sie bereits im Oktober des vergangenen Jahres und basiert auf einer UN-Resolution – findet aber außerhalb des Rahmens der Vereinten Nationen statt, also ohne logistische, finanzielle und personelle Unterstützung der Organisation. Der Grund für den Einsatz ist die eskalierende Gewalt in Haiti. Und für UN-Generalsekretär António Guterres könnte keine Friedensmission den "robusten Einsatz von umfassender Gewalt", der benötigt wird, gewährleisten. Seit der Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse im Jahr 2021 übernehmen die bewaffneten Gangs noch stärker die Macht als bis dahin.

Kenianische Polizisten in Haiti
Haitis Premierminister Garry Conille trifft die kenianischen Polizisten
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Kinder in Gangs

Allein in den ersten drei Monaten heuer wurden laut UN-Aufzeichnungen 1660 Haitianerinnen und Haitianer getötet, 845 verletzt. Ein Rekordwert. Mehr als eine halbe Million Menschen wurde bis dato durch die Gewalt vertrieben. Vor allem Kinder und Jugendliche leiden in großer Zahl und werden von den Gangs entweder verletzt oder zwangsrekrutiert. Bis zu 50 Prozent der Gangmitglieder sollen laut Schätzungen minderjährig sein. Im Februar haben sich einige bewaffnete Banden unter einem "Viv Ansanm" verbündet (was auf Kreolisch so viel wie "Zusammenleben" bedeutet) und koordinierte Attacken auf Infrastruktur gestartet. Premierminister Ariel Henry wurde aus dem Amt gejagt, seit April regiert ein übergangsmäßiger Präsidialrat.

Dieser sollte eigentlich einen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat schaffen, der eine Sicherheitsstrategie für das Land entwickelt und den operativen Teil der MSS übernimmt. Dieser existiert aber bis heute nicht. Trotzdem beginnen die ersten hundert Soldaten aus Kenia (und 250 aus Jamaika) bereits ihren Einsatz – und das mit monatelanger Verzögerung. Denn der Verfassungsgerichtshof in Nairobi hatte den Einsatz zunächst als verfassungswidrig eingestuft; erst eine bilaterale Vereinbarung zwischen Haiti und Kenia Ende Juni konnte die Mission auf eine rechtlich sichere Basis heben. Aber auch nur für Kenia.

Menschen suchen in einem Theater Schutz vor den Gangs. Mit ihnen reden werden die Kenianer wegen der Sprachbarriere nicht können.
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Große Sprachbarriere

Denn noch ist unklar, wie die Polizeibeamten in Haiti zusammenarbeiten sollen. An die Öffentlichkeit dringen nur wenige Details des Einsatzes. Offiziell damit die Gangs nicht zu viele Informationen erhalten – aber auch Kontrollorgane, Hilfsorganisationen und die Bevölkerung stehen im Nebel. "Das ist unbekanntes Terrain", sagt der von den Vereinten Nationen bestellte unabhängige Experte für Menschenrechte in Haiti, William O'Neill. Niemand wisse wirklich, wie man nun vorgehen solle. Die offensichtliche Sprachbarriere zwischen den englischsprachigen Kenianern und den französischsprachigen Haitianern wurde wohl durch vorangestellte Sprachkurse nicht komplett beseitigt. Und eigentlich ist die sprachliche Kluft noch tiefer, sagt Brian Concannon, Direktor des Institute for Justice and Democracy in Haiti: "Die meisten Haitianer sprechen Kreolisch. Mit Französisch können die kenianischen Polizisten wieder nur mit der Elite kommunizieren – und nicht mit den Armen in den betroffenen Nachbarschaften", sagt er im Telefonat mit dem STANDARD. Übersetzerinnen und Übersetzer sollen eingesetzt werden, wenn benötigt, wie viele das sind, ist unklar.

In dicht bebauten Nachbarschaften – wie im Bild Jalousie in Port-au-Prince – wird der Kampf gegen die Gangs schwer.
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Hilfsorganisationen, die einen großen Teil des Sozial- und Gesundheitssystems in Haiti stemmen, haben Angst, dass sie ins Kreuzfeuer von möglichen Straßenschlachten geraten. Ärzte ohne Grenzen (MSF) schloss bereits im Vorfeld aus, dass Bewaffnete vor ihren Kliniken und Zentren postiert werden. Waffen und humanitäre Hilfe würden nicht zusammenpassen. Unklar ist auch, wie die ausländischen Polizeikräfte gekennzeichnet werden, um sie von den humanitären Helferinnen und Helfern zu unterscheiden. Die Gangs versuchen bereits, die geflohene Bevölkerung zurück in ihre Viertel zu locken. Behörden warnen vor einer Rückkehr, die Banden würden die Menschen als Schutzschilde verwenden wollen. Auch Concannon glaubt, dass sich die Kriminellen wie bei früheren internationalen Einsätzen in die dicht bebauten Gebiete zurückziehen werden. Die internationalen Polizisten werden "einen raschen Erfolg auf den großen Straßen erreichen", glaubt er: "Aber dann kommt man zum schwierigen Teil: nämlich zu versuchen, Banden aus überfüllten Vierteln zu vertreiben, in denen sie oft Unterstützung und Schutz haben."

Polizisten ohne Kontrolle

Und wie wird die Zivilbevölkerung vor den ausländischen Einsatzkräften geschützt? Immerhin hat Haiti nicht die besten Erinnerungen an internationale Einsätze im Staat. Zuletzt hinterließ die 13-jährige UN-Stabilisierungsmission Minustah zahlreiche Betroffene von sexueller Gewalt und Ausbeutung sowie 10.000 Leichen nach einer eingeschleppten Cholera-Epidemie. Laut Statement der US-Regierung (die den höchsten finanziellen Beitrag an der Mission leistet) gibt es "wichtige Verantwortlichkeits- und Beobachtungsmaßnahmen", die sicherstellen sollen, dass die Polizisten kontrolliert werden. Details gibt es aber natürlich keine. In Haiti selbst zeigt man sich nervös ob des Einsatzes der Kenianer, die in ihrem eigenen Land erst vor kurzem während Demonstrationen im Zusammenhang mit den Wahlen auf ihre Landsleute geschossen haben. Ein Gutteil des kenianischen Kontingents hat zudem erst vor kurzem an der Grenze zu Somalia gegen Terroristen gekämpft. Was von Nairobi als Qualitätsmerkmal verkauft wird – dass sie kampferprobt seien –, sehen Beobachter als Zeichen, dass der Schutz der Zivilbevölkerung womöglich nicht die oberste Priorität für die Polizisten hat.

Laut Concannon vom Institute for Justice and Democracy in Haiti gibt es de facto keine Mechanismen, um Polizisten zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sie etwas Illegales machen. Als Beispiel nennt er eine Frau, die missbraucht und anschließend schwanger wird und schließlich den Täter zumindest zu Unterhaltszahlungen bewegen will – etwas, das tatsächlich oft während der Minustah-Mission geschehen ist: "Diese Frau müsste nach Nairobi fliegen, um den Mann vor einem kenianischen Gericht zu klagen." Offenbar war es den verantwortlichen Staaten – also den USA oder Kenia – nicht wichtig, dass Täter zur Verantwortung gezogen werden. An einen Fehler im System glaubt Concannon nicht.

US-Außenminister Antony Blinken versucht, die Gelder für die Mission in Haiti freizubekommen.
AP/Jacquelyn Martin

Eigentlich sollte die internationale Polizeimission nach neun Monaten geprüft werden. Je nach Ergebnis dieser Überprüfung würde sie nach einem Jahr weiterlaufen oder abgedreht werden. Der Zeitplan ist aber noch ausgelegt auf den ursprünglichen Plan, dass die Mission im Oktober startet – angepasst wurde nichts. Womöglich scheitert ein langfristiger Einsatz am Finanziellen. Denn von den 600 Millionen benötigten US-Dollar befinden sich gerade einmal magere 21 Millionen im speziell eingerichteten Treuhandfonds. Die 300 Millionen US-Dollar aus Washington hängen fest, denn die Republikaner im Kongress fordern zuerst mehr Transparenz dazu, was mit dem Geld eigentlich passieren soll. (Bianca Blei, 4.7.2024)