Das Leben in einem großen Kollektiv hat viele Vorteile, allerdings auch so manche Schattenseiten. Drängen sich beispielsweise viele Individuen einer Art auf engstem Raum zusammen, haben Krankheitserreger leichtes Spiel. Um die Gefahr durch eingeschleppte Infektionen zu minimieren, haben Ameisen erstaunliche Strategien entwickelt. Sie kümmern sich um siechende Artgenossinnen, "wissen" aber auch, von welchen Kolleginnen sie sich im Krankheitsfall lieber fernhalten sollten.

Nun zeigen Beobachtungen an den Florida-Holzameisen (Camponotus floridanus), dass sich die Insekten auch um verletzte Tiere kümmern – und dabei drastische Maßnahmen nicht scheuen: Die Ameisen amputieren bei bestimmten Verletzungen Gliedmaßen, um das Leben verwundeter Artgenossinnen zu retten. Es scheint, als wäre die Rettung von Leben durch Chirurgie nicht allein dem Menschen vorbehalten.

Florida-Holzameisen (Camponotus floridanus)
Florida-Holzameisen (Camponotus floridanus) gelten als sehr aggressiv. Jede Störung ihres Nestes wird mit einem sofortigen Angriff quittiert. Größere Arbeiterinnen können mit ihren Bissen auch die menschliche Haut durchdringen.
Foto: University of Florida

Aggressive Kämpferinnen

Camponotus floridanus kommt im Südosten der USA vor. Die rotbraunen Tiere werden mit bis zu 1,5 Zentimeter Körperlänge relativ groß und gelten als sehr aggressiv. Ihr kräftiger Biss durchdringt auch die Haut. Sie nisten in verrottendem Holz und verteidigen ihr Nest energisch gegen rivalisierende Ameisenstaaten oder menschliche Zudringlichkeit. Kommt es zu Kämpfen zwischen den Ameisenvölkern, besteht Verletzungsgefahr für die Insekten.

Die Forschenden interessieren sich für diese Ameisenspezies, weil sie keine Metapleuraldrüse besitzt. Mit dieser Drüse produzieren andere Ameisenarten ein antibiotisch wirksames Sekret, das sie auf infizierte Wunden auftragen. Wie also gingen die Camponotus-Ameisen so ganz ohne "Medikamente" gegen Infektionen vor? Dass sie verletzungsspezifische Amputationen einsetzen, war schließlich eine große Überraschung.

Wundversorgung bei Camponotus floridanus
Eine verwundete Kämpferin wird behandelt, eine Artgenossin beißt ihr ein Bein ab. Danach versorgt sie die Wunde durch Belecken.
Illustr.: Hanna Haring

Erfolgreiche Eingriffe

Der radikale Eingriff sollte verhindert, dass sich lebensgefährliche Wundinfektionen im Körper der Ameisen ausbreiten. Der Erfolg beweist die Sinnhaftigkeit der Maßnahme: Rund 90 Prozent der amputierten Tiere überleben die Behandlung. Der Verlust eines ihrer sechs Beine schränkt die Ameise praktisch nicht ein, sie kann sich weiterhin ihren Aufgaben im Nest im vollen Umfang widmen.

Wie eine Forschungsgruppe der Universität Würzburg (JMU) und der Universität Lausanne im Fachjournal Current Biology berichtet, folgen die Ameisen einer ganz bestimmten Leitlinie, um zu entscheiden, wann eine Amputation angeraten ist: Die Wundversorgerinnen schreiten nur dann zur Tat, wenn die Beinverletzungen am Oberschenkel liegen – egal ob die Wunden steril oder mit Bakterien infiziert sind.

Befinden sich die Wunden dagegen am Unterschenkel, wird niemals amputiert. Stattdessen treiben die Ameisen in solchen Fällen einen höheren Aufwand bei der Pflege der Verwundeten: Sie lecken die Wunden intensiv aus. Vermutlich säubern sie sie damit auf mechanischem Weg von Bakterien. Auch diese Therapie ist mit einer Überlebensrate von rund 75 Prozent relativ erfolgreich.

Florida-Holzameisen (Camponotus floridanus), große Arbeiterin
Das Bild zeigt eine große Florida-Holzameisen-Arbeiterin. Die Königinnen sind im Durchschnitt 14 bis 16 Millimeter lang, manche kräftige Arbeiterinnenvariante erreicht ähnliche Ausmaße. Die kleineren Arbeiterinnen sind im Schnitt vier bis neun Millimeter lang.
Foto: Bob Peterson

Sinnvolle Faustregel

Die merkwürdig anmutende Oberschenkel-Faustregel über Verlust oder Verbleib scheint durchaus sinnvoll, wie weitere Untersuchungen des Teams zeigten: Bei jenen Tiere, die nur den Unterschenken verloren, lag die Überlebensrate bei 20 Prozent.

Die Forschenden haben auch eine Erklärung dafür gefunden,warum das so ist: Computertomografische Untersuchungen zeigten, dass im Oberschenkel der Ameisen viele Muskeln sitzen, deren Aktivität für die Zirkulation des "Ameisenbluts" sorgt, der Hämolymphe. Ameisen besitzen kein zentral pumpendes Herz wie Menschen, sondern mehrere über den Körper verteilte Herzpumpen und Muskeln, die diese Funktion übernehmen.

"Verletzungen am Oberschenkel beeinträchtigen die Muskeln und behindern die Zirkulation", sagte Erik Frank von der JMU. Weil der Blutfluss gemindert ist, gelangen Bakterien nicht so schnell von der Wunde in den Körper. In diesem Fall lohnt sich die Amputation: Bei schnellem Handeln ist die Chance groß, dass der Körper noch frei von Bakterien ist.

Video: Chirurgischer Eingriff unter Ameisen
New Scientist

Prophylaktische Amputationen

Im Unterschenkel dagegen liegen keine Muskeln, die für die Zirkulation der Hämolymphe relevant sind. Ist er verwundet, dringen die Bakterien sehr schnell in den Körper vor. Das Zeitfenster für eine erfolgreiche Amputation ist dann eng, die Chance auf Rettung gering.

"Genau das scheinen die Ameisen zu 'wissen', wenn man es vermenschlichend ausdrücken will“, sagte Frank. "Unsere Studie belegt erstmals, dass auch Tiere im Zuge der Wundbehandlung prophylaktische Amputationen einsetzen. Und sie zeigt, dass die Ameisen die Behandlung an der Art der Verletzung ausrichten", meinte Laurent Keller aus Lausanne. (tberg, red, 03.07.2024)