Der großartige Jesse Plemons gewann für "Kinds of Kindness" eine Darsteller-Palme in Cannes.
AP/Atsushi Nishijima

Der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos schaut auf die Menschen gern so, als wären sie merkwürdige Tiere. Er beobachtet schräge Versuche, dem Leben auf die Spur zu kommen, und inszeniert diese Versuche als Rätselreisen in das Gefüge der Welt. Mit Poor Things hatte er zuletzt einen Welterfolg: die Selbstfindung einer Frau, die zugleich ihr eigenes Baby ist, virtuos inszeniert in einer Ästhetik von Kirtagsschauder und Belle-Epoque-Laszivität.

Mit Kinds of Kindness legt er nun ein ausuferndes Mysterium vor, bei dem ein Unbehagen ständiger Begleiter ist. Drei Geschichten folgen aufeinander, es gibt Andeutungen von Zusammenhängen, alle haben die Abkürzung R.M.F. im Titel („The Death of R.M.F.“ etc.), sodass man natürlich gern wissen würde, wer R.M.F. ist. Es ist allerdings unklar, ob scharf mitdenken ausreicht, um darüber Aufschluss zu erlangen. Jesse Plemons spielt jeweils die zentrale Figur, einen Mann, dem die seltsamsten Dinge zustoßen und der sich in Szenarien wiederfindet, die man vielleicht kafkaesk nennen könnte – wäre dieses Wort nicht inzwischen beinahe wertlos.

In der letzten Episode spielen Emma Stone und Plemons Mitglieder einer Sekte, die eine weibliche Messiasfigur suchen: Die Erkennungsmerkmale sind Gewicht, Größe... und der Abstand zwischen den Brüsten.
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Gewalteffekte

Im ersten Teil ist Plemons eine Art Angestellter namens Robert, der von einem Raymond (Willem Dafoe) bis ins kleinste Detail seines Lebens herumkommandiert wird. Ob das existenzielle Spiel auch Aspekte von Sadomaso hat? Andeutungen legen das nahe, konkreter aber wird es nicht. R.M.F. ist in diesem Fall ein Mann, der bei einem absichtlich herbeigeführten Verkehrsunfall ums Leben kommen soll. Im zweiten Teil ist Plemons ein Polizist namens Daniel, dessen Frau Liz (Emma Stone), eine Meeresbiologin, bei einer beruflichen Expedition verloren geht. Als sie plötzlich wieder auftaucht, sieht vieles danach aus, dass sie nicht wirklich sie selbst ist.

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Dieses Misstrauen spielt Lanthimos dann konsequent durch, mit einigen Körperschockmomenten, die sich gewaschen haben – doch welchen Sinn haben solche Mutproben des Hinschauens heute noch? Man fühlt sich ein wenig an Funny Games von Michael Haneke erinnert, den vielleicht berühmtesten Vorbildfilm über Gewalteffekte im Kino. Lanthimos aber weidet sich bloß an solchen Effekten.

Lebensversicherung

Im dritten Teil werden die Motive auf perverse Spitzen getrieben, wenn es um einen merkwürdigen Reinheitskult geht und um Möglichkeiten, Tote wiederzubeleben. Neben Plemons und Dafoe ist in Kinds of Kindness auch wieder Emma Stone vertreten, die in Poor Things so großartig war und für Lanthimos so etwas wie eine berufliche Lebensversicherung darstellt: Solange eine Schauspielerin ihres Kalibers von seinen Visionen schwärmt und immer dabei mitmachen will, wird er sich noch einiges an ziellosen Grotesken wie in Kinds of Kindness leisten können.

Vor ein wenig mehr als zehn Jahren zählte Lanthimos noch zu einer jungen Generation griechischer Filmemacher, die zwischen Popkultur und Verhaltensforschung, Mythologie und kritischer Theorie spannende neue Wege fand. In Attenberg (2010) von Athina Rachel Tsangari kann man ihn auch als Schauspieler sehen. Innerhalb dieser Gruppe hat Lanthimos den größten Karrieresprung gemacht. Er hat seither mit Colin Farrell und Nicole Kidman gearbeitet und einen originellen Typ von Mainstream-Arthouse geprägt, der ihn bis zu den Oscars gebracht hat.

Der alte Mann und das Negligé: Willem Dafoe und Margaret Qualley als ungleiches Paar in der ersten Filmepisode.
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Während Poor Things eine Literaturadaption war (nach einem Roman von Alasdair Gray), ist Kinds of Kindness (geschrieben mit Ethimis Filippou) nun wieder eine originäre Lanthimos-Schöpfung. Es geht um Macht, die Menschen über andere Menschen haben, um Unterwerfung und Emanzipation, auch um morbide Formen von Verführung. Und es geht um ein bestimmtes amerikanisches Lebensgefühl, das Lanthimos als Außenseiter umso gekonnter zuspitzen kann. Insgesamt sind seine Studien über die "Formen der Güte" aber eben das exakte Gegenteil dessen, was der Titel andeutet: Kinds of Kindness erzählt durchwegs von unangenehmen Figuren, und von einer David-Lynch-Stimmung im Leerlauf. (Bert Rebhandl, 4.7.2024)