Plenarsaal des Nationalrates während einer Sitzung.
Wahlzuckerln zum Ende der Legislaturperiode sind tabu: Österreich droht aufgrund seiner hohen Schulden ein EU-Defizitverfahren.
APA / TOBIAS STEINMAURER

Ein freies Spiel der Kräfte wäre staatspolitisch unverantwortlich, sagte Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) im Zuge der jüngsten Regierungskrise nach dem Brüsseler Alleingang von Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) beim Renaturierungsgesetz. Die Furcht vor einem solchen Szenario im Parlament motivierte Nehammer offenbar auch, der maroden türkis-grünen Koalition bis zum Wahltermin doch noch die Treue zu halten.

Mit seiner Einschätzung von der staatspolitischen Verantwortung hat der Kanzler recht. Das zeigte etwa die berüchtigte letzte Parlamentssitzung vor der Nationalratswahl 2008. Damals beschlossen die Parteien im freien Spiel der Kräfte etliche Wahlzuckerln, deren Milliardenkosten noch jahrelang nachwirkten. Darunter waren etwa die Verlängerung der Hacklerregelung und die Abschaffung der Studiengebühren.

Gerade jetzt könnte sich die Republik politischen Opportunismus dieser Art aber wirklich nicht leisten. Die Staatsschulden sind so hoch, dass Österreich ein Defizitverfahren wegen Verstoßes gegen die EU-Maastricht-Kriterien droht. Die nächste Bundesregierung – aus welchen Parteien auch immer sie sich zusammensetzen wird – dürfte zu einem folgenreichen Sparpaket gezwungen sein.

Zum Kehraus vor eigener Türe kehren

Deshalb sollte Nehammer zum Parlamentskehraus auch vor der eigenen Türe kehren: Die von der türkis-grünen Koalition beschlossene Abschaffung der kalten Progression ist nämlich einer der Hauptgründe für das drohende Defizitverfahren, wie Fiskalratspräsident Christoph Badelt jüngst ausführte. Der Budgetdienst im Parlament schätzt, dass die steuerliche Entlastung die öffentliche Hand zwischen 2023 und 2027 fast elf Milliarden Euro an Mehreinnahmen kosten wird. Das ist fast so viel wie die aktuellen Gesamtausgaben für das Bildungssystem.

Auch weitere Entlastungsmaßnahmen wie die Corona- und Teuerungshilfen beschloss Türkis-Grün ohne Gegenfinanzierung. Den Druck, die eskalierende Verschuldung mit Sparmaßnahmen oder auch neuen Steuern wieder einzufangen, gibt die aktuelle Regierungsriege an ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger weiter.

ÖVP und Grüne sollten zum Ende ihrer Amtszeit auch keinesfalls noch einer populären Verlockung erliegen: zu versuchen, ihren schlechten Umfragewerten in der letzten Parlamentssitzung der Legislaturperiode im September noch mit Last-Minute-Wahlzuckerln entgegenzuwirken. Bei der Rede von der staatspolitischen Verantwortung werden der Kanzler und seine koalitionären Mitstreiterinnen und Mitstreiter dann beim Wort zu nehmen sein. (Martin Tschiderer, 3.7.2024)