Mit ihren 84 Lebensjahren und einer Parlamentserfahrung von fast vier Jahrzehnten gilt Nancy Pelosi als eine der gewieftesten Taktikerinnen in der amerikanischen Politik. Die ehemalige Sprecherin des Repräsentantenhauses wägt ihre Worte sehr genau. Insofern war es höchst bemerkenswert, was die Grande Dame der amerikanischen Demokraten in einem Interview des Fernsehsenders MSNBC sagte.

Nancy Pelosi erhielt erst vor wenigen Wochen von Joe Biden die Medal of Freedom.
REUTERS/Evelyn Hockstein

"Nach meiner Erfahrung", erwiderte Pelosi auf die Frage nach der geistigen Fitness von Joe Biden und setzte zu einer Litanei von politischen Erfolgen des Präsidenten an, "hat er das alles meisterhaft durchgebracht." Bei der Fernsehdebatte habe er eine "schlechte Nacht" gehabt. Damit hätte Pelosi enden können – doch ohne Not setzte sie hinzu: "Ich finde es legitim zu fragen, ob das ein (einmaliger) Vorfall oder ein Gesundheitszustand ist."

Pelosis demonstrative Distanzierung vom Weißen Haus spiegelt die wachsende Frustration der Partei über ihren Präsidentschaftskandidaten nach dessen desaströsem Auftritt im TV-Duell. Vertrauliche Umfragen eines großen Biden-Spendenfonds zeigen nach einem Bericht der New York Times, dass der 81-Jährige inzwischen nicht nur in den sechs Swing-States, sondern auch in den Bundesstaaten New Mexiko, New Hampshire und Virginia hinter Trump liegt, die bisher als nicht gefährdet galten. Laut Washington Post hat Ex-Präsident Barack Obama in privaten Gesprächen eingeräumt, dass es noch schwieriger werde, Trump zu schlagen.

Weißes Haus dementiert Bericht

Offiziell hat das Weiße Haus seit Tagen das Problem geleugnet. Am Mittwoch schlug dann ein Bericht der New York Times Wellen, demzufolge Biden selbst einem Vertrauten gesagt hat, dass er vor einer großen politischen Herausforderung stehe, die Öffentlichkeit in den nächsten Tagen von seiner Fitness für das Amt zu überzeugen. "Er weiß, dass er sich in einer ganz anderen Situation befindet, wenn es zwei weitere Ereignisse dieser Art geben sollte", zitiert das Blatt den anonymen Informanten. CNN berichtete kurz darauf Ähnliches. Einer seiner Sprecher bezeichnete den Bericht als "absolut falsch". Bislang scheint Biden entschlossen, im Rennen zu bleiben. Bei einem Telefonat mit seinem Wahlkampfteam habe er sich am Mittwoch entschlossen gezeigt, für die Demokraten bei der Präsidentschaftswahl anzutreten. "Ich werde kandidieren" (engl. "I am running"), habe er erklärt. Auch seine Sprecherin Karine Jean-Pierre antwortete auf die Frage, ob der 81-Jährige nach seiner weithin als schwach bewerteten Wahldebatte einen Rückzieher prüfe: "Absolut nicht."

In den Stunden zuvor hatte es Absetzbewegungen in der Partei gegeben. Als erster Abgeordneter wagte sich am Dienstag Lloyd Doggett aus der Deckung und forderte Bidens Verzicht auf die Kandidatur. Der linke Demokrat aus Austin, der immerhin 15 Legislaturperioden im Kapitol verbracht hat, erklärte, Biden habe 2020 das Land von Trump befreit: "Er darf uns 2024 nicht Trump ausliefern." Kurz darauf erklärte die Abgeordnete Marie Gluesenkamp Perez, Biden werde "gegen Trump verlieren".

Mittwochabend forderte dann auch der US-Abgeordnete Raul Grijalva als zweiter Demokrat im Kongress Präsident Joe Biden auf, sich aus dem Rennen um die Präsidentschaftskandidatur zurückzuziehen. "Wenn er der Kandidat ist, werde ich ihn unterstützen, aber ich denke, dass dies eine Gelegenheit ist, sich anderweitig umzusehen", sagte Grijalva gegenüber der New York Times. "Was er (Biden) tun muss, ist, die Verantwortung für den Erhalt dieses Amtes zu übernehmen – und ein Teil dieser Verantwortung ist es, aus diesem Rennen auszusteigen".

Offene Spekulationen

Politiker aus der ersten Reihe halten sich mit direkten Angriffen auf Biden bislang zurück. Das kann kaum verwundern: Immerhin hat sich der Präsident längst die erforderlichen Delegiertenstimmen gesichert und will an seiner Kandidatur festhalten. Auch gibt es weder eine zwingende Alternative noch einen Plan, wie zu einem derart späten Zeitpunkt eine Auswechslung ablaufen könnte. Umso bemerkenswerter sind Äußerungen des Vize-Fraktionschefs James Clyburn. Der einflussreiche Afroamerikaner aus South Carolina hatte 2020 Biden maßgeblich zur Nominierung verholfen. Nun spekuliert er über einen Rückzug des Präsidenten und erklärt, in diesem Fall werde er Vizepräsidentin Kamala Harris unterstützen.

Jim Clyburn: einst enger Verbündeter, jetzt ziemlich offener Kritiker Bidens.
AP/Meg Kinnard

Schadensbegrenzung

Vor allem hinter den Kulissen dürfte es bei den Demokraten brodeln: Biden griff für Krisengespräche selbst zum Hörer, wie das Weiße Haus mitteilte. Demnach telefonierte er am Mittwoch mit hochrangigen Demokraten wie dem Mehrheitsführer im Senat, Chuck Schumer, dem Minderheitenführer im Repräsentantenhaus, Hakeem Jeffries, und weiteren Parlamentariern.

Am Abend schaltete sich Biden mit mehr als 20 demokratischen Gouverneuren zusammen - wohl mit dem Ziel, sich deren Unterstützung zu sichern. Der Gouverneur von Maryland, Wes Moore, bezeichnete das Gespräch im Anschluss als "aufrichtig". Man stehe hinter Biden, aber sorge sich um den Stand der Demokraten im Rennen um die Präsidentschaft.

Im Weißen Haus bemühte sich Bidens Stabschef Jeff Zients um Schadensbegrenzung. In einer Telefonschaltung mit mehr als 500 Regierungsmitarbeitern rief Zients übereinstimmenden Medienberichten zufolge dazu auf, den "Lärm" um Biden auszublenden und sich auf die Regierungsarbeit zu konzentrieren. Die vergangenen Tage seien eine Herausforderung gewesen. Die Fokussierung aller Mitarbeiter auf die Regierungsarbeit werde in der heißen Wahlkampfphase noch wichtiger, sagte er demnach.

Zurück in die Offensive

Mehr noch als auf die objektiv schlechte Performance von Biden in der Debatte scheint sich die Verärgerung vieler Demokraten auf das Gefühl zu beziehen, vom Präsidenten und dessen Umfeld lange über dessen tatsächlichen mentalen Zustand getäuscht worden zu sein. Die New York Times berichtete am Mittwoch in einer großen Enthüllungsgeschichte, dass der 81-Jährige bei internen Zusammenkünften schon in den vergangenen Monaten öfter "konfus" und "lustlos" gewirkt oder in einem Gespräch den Faden verloren habe. Bidens Sprecherin Karine Jean-Pierre führte die Debattenschlappe hingegen erneut auf eine Erkältung zurück. Biden selbst wiederum erklärte bei einer Spendengala, es sei "nicht schlau" von ihm gewesen, zwei kräftezehrende Reisen (zum Weltkriegsgedenktag in Frankreich und zum G7-Gipfel in Italien) kurz hintereinander zu machen: "Ich bin auf der Bühne fast eingeschlafen."

Mit einigen Tagen Verzögerung versucht Biden nun, wieder in die Offensive zu kommen: Am Freitag will Biden sein erstes ausführliches Fernsehinterview seit der TV-Debatte geben. Für das Wochenende sind Wahlkampfauftritte in Pennsylvania und Wisconsin angekündigt. Und für nächste Woche beim Nato-Gipfel in Washington plant Biden ein extrem seltenes Ereignis: Er will sich bei einer Pressekonferenz den Fragen der Journalistinnen und Journalisten stellen. (Karl Doemens aus Washington, 3./4.7.2024)