Mert Günok packte gegen Christoph Baumgartner eine Glanzparade in der 94. Minute aus.
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Leipzig – Es war der Moment, der beinahe noch alles verändert hätte: Christoph Baumgartner kam gegen die Türkei in der letzten Minute zum Kopfball, doch Goalie Mert Günok wehrte sensationell ab. Wenig später war das 1:2 von Österreichs Fußball-Nationalmannschaft im EM-Achtelfinale besiegelt. "Ich bin mir ziemlich sicher, wenn der Kopfball reingeht, dass wir dann in der Verlängerung gewonnen hätten", sagte Teamchef Ralf Rangnick am Dienstag in Leipzig und fühlte sich an Gordon Banks erinnert.

Der legendäre englische Goalie entschärfte bei der WM 1970 auf spektakuläre Weise einen Kopfball von Pele, diese Szene gilt bis heute als "Abwehr des Jahrhunderts". Rangnick bejahte die Frage, ob er Parallelen zwischen den Heldentaten von Banks und Günok sah. "Mit Gordon Banks im Tor ist dann leider auch die letzte große Chance, die wir hatten, nicht ins Tor gegangen", erklärte der Deutsche und bezeichnete Günoks Abwehr als "unglaublich".

Die Parade von Gordon Banks gegen Pele.
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Der Gigant im Tor

Marcel Sabitzer spielte in der 94. Minute in einem letzten Aufbäumen einen hohen Ball in den Strafraum, den Angreifer Michael Gregoritsch nicht wie gewollt verlängern konnte. Der Ball ging allerdings zu Alexander Prass auf dem linken Flügel, der direkt und im hohen Bogen in den Strafraum flankte. Baumgartner rannte hinter die Verteidiger ans lange Eck, kam ideal zum Kopfball und probierte einen Aufsetzer ins linke Eck. Günok hechtete an der Linie und kratzte den Ball von der Linie ins Toraus.

Baumgartners Top-Gelegenheit wurde von Statistikern gar eine Wahrscheinlichkeit von 94 Prozent für einen Torerfolg gegeben. Dabei wurden die Positionierung beider Spieler nach Ballabgabe, die Richtung des Kopfballs und das Tempo des Torabschlusses einberechnet. "Ich glaube, ich mache nicht so viel falsch. Ich köpfle auf den Boden gegen die Laufrichtung, aber es war eine unglaubliche Parade von ihm, da kann man nur gratulieren. Für mich und für uns ist das extrem bitter, aber so ist der Fußball", sagte Baumgartner.

Auch Gregoritsch musste Günoks Glanzleistung zähneknirschend zur Kenntnis nehmen. "Das war eine der besten Paraden, die ich live am Platz gesehen habe. Man muss dem türkischen Tormann echt Anerkennung zollen, das war für mich eigentlich ein sicheres Tor", meinte der Steirer.

Günok entwickelte sich an diesem Abend zu einem "Giganten im Tor", wie die türkische Zeitung Hürriyet schrieb. Er sorgte dafür, dass der türkische EM-Traum am Samstag (21 Uhr) in Berlin gegen die Niederlande weitergeht.

Es falle ihm "schwer zu sprechen", sagte Günok nach seiner Rettungstat. Während sein Teamkollege und Doppeltorschütze Merih Demiral mit einem Wolfsgruß für einen Eklat sorgte, sagte Günok bescheiden: "Es war ein sehr schöner Sieg. Ich danke allen für ihre Gebete, wir haben noch einen langen Weg vor uns. Hoffentlich schaffen wir es bis zum Ende." Der Erfolg gegen Österreich habe die Moral der Türkei "auf ein höheres Niveau gebracht".

Baumgartner konnte die Parade von Günok kaum fassen.
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Zwischen Enttäuschung und Vorwürfen

Österreich brachte es gegen die Türkei auf 21 Torschüsse, der Gegner kam nur zu sechs Abschlüssen. Für Baumgartner platzte mit dem Ausscheiden nach eigenen Angaben ein Traum. Man hätte den Fans gerne noch mehr Freude bereitet, erklärte der Leipzig-Profi. "Es ist ganz schwierig, sich in so einer Situation nach so einem Spiel hinzustellen und in die Gesichter der Leute zu schauen, weil man weiß, man hat sie irgendwo enttäuscht."

Die Unterstützung der Anhänger während des gesamten Turniers sei "ein Wahnsinn" gewesen. "Wir haben gespürt, dass das ganze Land hinter uns steht. Das macht es noch einmal ein Stück schwieriger zu akzeptieren, dass es jetzt vorbei ist", erklärte Baumgartner. Das Spielglück sei diesmal "absolut nicht auf unserer Seite gewesen. Wir haben sicher nicht unser bestes Spiel gemacht, aber hätten die Partie trotzdem gewinnen können."

Video: Die zerstörte Hoffnung der Österreich Fans
APA/kha

Vor Baumgartner hatte auch Marko Arnautovic eine gute Chance ausgelassen, dem ÖFB-Rekordspieler war danach die Enttäuschung ebenso anzumerken. "Es ist sehr schade, so rauszugehen", meinte der 116-fache Teamspieler.

Schon vor der EM hatte Arnautovic angekündigt, nach dem Turnier über seine Zukunft in der ÖFB-Auswahl zu reflektieren. Dies wiederholte er auch am Dienstag. "Ich muss jetzt mal zu meiner Familie zurück und nachdenken, was weiter passiert. Es kann sein, dass es das letzte Mal für mich war. Ich muss es jetzt mal verkraften. Ich hoffe, dass ich die nächsten Tage zu mir kommen kann, und dann werde ich eine Entscheidung treffen", kündigte der 35-Jährige an. (luza, sid, APA, 3.6.2024)