Von Depressionen zu sprechen wäre doch etwas zu viel des Schlechten, aber es liegt eine unendliche Traurigkeit über dem Tag nach dem Ausscheiden aus der Euro 24. Einerseits über die vergebene Chance, bei einem renommierten Turnier einmal wirklich richtig weit zu kommen, andererseits fühlt man mit den Spielern mit, die uns über weite Strecken des Turniers so begeistert haben und die gegen die Türkei im Achtelfinale nie ihr mögliches Niveau erreichten und trotzdem als bessere Mannschaft scheiterten.

Deshalb bin ich geneigt, einen Teil der Schuld auf mich zu nehmen. Ich hätte niemals die Kleidung aus der erfolgreichen Vorrunde wechseln dürfen, aber auch Marcel Sabitzer änderte mitten im Turnier seine Frisur. So etwas tut man nicht!

Und dann passierte das, was sich wohl kein einziger österreichischer Fußballfan vorstellen konnte. Zu groß waren Euphorie und Zuversicht, und – auch wenn es jeder und jede in Abrede stellte – man war nach dem deutlichen Vorbereitungsergebnis gegen die Türkei überzeugt, den schwächsten Achtelfinalgegner gezogen zu haben. Das alles schraubte die Fallhöhe in schwindelnde Regionen, das alles macht die unsanfte Landung auf dem Boden der Realität noch viel schmerzhafter.

Mit Leidenschaft und Glück

Die Türken hatten einen perfekten Spielverlauf. Nach 57 Sekunden spielte die österreichische Verteidigung nach einem Eckball Pingpong im kleinen Strafraum und Demiral staubte ab. Trotzdem war die Welt noch weitgehend in Ordnung, allein Baumgartner hätte in den ersten fünf Minuten zweimal den Ausgleich erzielen können. Allerdings gelang das nicht, und die österreichische Leistung wurde mit Fortdauer des Spieles immer zerfahrener und uninspirierter, während die Türken mit jeder gelungenen Aktion immer weiter über sich hinauswuchsen. Offenbar sind K.-o.-Spiele doch etwas anderes als normale Gruppenspiele, und da fehlt es den Österreichern deutlich an Erfahrung (erst das zweite in der jüngeren Vergangenheit) – und außerdem erwischen verlässliche Leistungsträger wie Laimer, Sabitzer und Marko Arnautović bei weitem nicht ihr mögliches Niveau.

Doppeltorschütze Merih Demiral feierte mit einer zweifelhaften politischen Geste. Wozu?
Foto: Reza Shafiei

Teamchef Rangnick reagierte bereits vor der Halbzeit mit einem spielanweisenden Zettel an Konrad Laimer und in der Halbzeit dann konkret mit zwei Wechseln. Prass kam für den überforderten Mwene, Gregoritsch als zweite Sturmspitze. Die Österreicher bekamen das Spiel immer mehr in den Griff – Arnautović vergab die große Ausgleichschance –, als nach einer knappen Stunde der Fußballgott (oder sein muslimisches Pendant) erneut in den Spielverlauf eingriff. Abermals Corner, diesmal war Demiral per Kopf zur Stelle. Wieder schüttelten sich die Österreicher und kamen durch Gregoritsch in der 66. Minute, ebenfalls nach einem Eckball, zum Anschlusstreffer. Danach war es ein Spiel auf einer schiefen Ebene Richtung türkisches Tor. Die Türken aber verteidigten mit Leidenschaft und Glück. Als symptomatisch für die österreichischen Bemühungen – die zu keiner Zeit resignierten und vorbildhaft liefen und kämpften – soll die Szene in der 95. Minute gelten, als Baumgartner eine hohe Flanke gegen den Lauf des Torhüters aufs lange Eck setzte. Torhüter Günok gelang die Schubumkehr, und mit einem unglaublichen Reflex entschärfte er den Kopfball. Unsere Fernsehrunde hatte den Torschrei nicht nur auf den Lippen, sondern der hatte längst unsere Kehlen verlassen und verklang im finsteren Waldviertler Nachthimmel. Dann war Schluss, und niemand in unserer Runde wollte etwas sagen, außer vielleicht die üblichen Verbalinjurien.

Trotzdem gratulieren wir den Türken herzlich zum Aufstieg und zu ihrer Leidenschaft. Dem zweifachen Torschützen Demiral gratulieren wir nicht. Dieser entbot den türkischen Fans beim Torjubel den faschistischen Wolfsgruß und konterkarierte damit den oft apostrophierten völkerverständigenden Gedanken dieses Turniers. Demiral soll dorthin gehen, wo die Sonne nicht scheint, oder in die Politik.

Auch wenn die Wunden heute noch bluten, so lässt sich doch positiv resümieren. Das österreichische Team spielte ein hervorragendes Turnier und wurde Gruppensieger vor Frankreich und Holland. Vor allem, wie gespielt wurde, lässt hoffen, dass wir bei den nächsten großen Aufgaben noch viel Freude mit dieser Mannschaft haben werden. Den Abstand zur Europaspitze haben wir definitiv deutlich verringert. (Gerald Simon, 3.7.2024)