Einstein Gödel Gödel’s Loophole
Kurt Gödel und Albert Einstein in Princeton bei einem ihrer legendären Spaziergänge. Zwei Jahre zuvor hatte der geniale Logiker einen bis heute rätselhaften Fehler in der US-Verfassung entdeckt, der als "Gödel’s Loophole" bekannt wurde.
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Seit der Supreme Court der USA mit seinem jüngsten Urteil dem US-Präsidenten besondere Immunität zubilligte, schrillen nicht nur bei Rechtsexpertinnen und -experten die Alarmglocken. Denn damit droht, dass sich der Präsident über das Gesetz stellen könnte. Die liberale Verfassungsrichterin Sonia Sotomayor, die gegen das Urteil gestimmt hatte, bei der 6:3-Entscheidung aber unterlag, spitzte ihre Kritik prägnant zu: Der Präsident könnte ein Navy-Seal-Team beauftragen, einen politischen Rivalen zu beseitigen, oder einen militärischen Coup zum Machterhalt anstiften – und wäre immun, da er damit zum "König vor dem Gesetz werde".

Angesichts der Äußerungen Trumps, Diktator (nur) für einen Tag sein zu wollen, ist Schlimmstes zu befürchten. Selbst Joe Biden, der aktuelle Präsident, beendete seine jüngste Rede mit dem Wunsch: "Möge Gott helfen, unsere Demokratie zu bewahren." Diese neuen Entwicklungen riefen in den sozialen Medien auch eine berühmte Anekdote rund um den legendären österreichisch-amerikanischen Logiker Kurt Gödel in Erinnerung.

Gödel wollte bereits 1947 einen logischen Fehler in der US-Verfassung entdeckt haben, durch den das Land zu einer Diktatur werden könnte. Welcher Fehler das sein könnte, bleibt allerdings bis heute rätselhaft und umstritten.

Doch alles der Reihe nach. Kurt Gödel hatte ein ungewöhnliches Faible: Er suchte Fehler in Systemen, die eigentlich keine enthalten dürften. Eine Wissenschaft, die als besonders sicher gilt, ist die Mathematik. Seit ihrem Bestehen hatte sie sich als verlässlicher erwiesen als alle anderen Wissenschaften und schien in dieser Hinsicht konkurrenzlos zu sein. Doch der junge Kurt Gödel, der an der Uni Wien Mathematik studierte, konnte mit seinem berühmten Unvollständigkeitssatz 1931 zeigen, dass es möglich ist, einen mathematischen Satz zu konstruieren, der von sich behauptet: "Ich bin nicht beweisbar." Dieser fundamentale Beweis trug dazu bei, dass Albert Einstein seinen späteren Kollegen in Princeton als den größten Logiker seit Aristoteles bezeichnete.

Axiome des Staates

In der Mathematik stellen Axiome die Grundannahmen dar, die selbst nicht hinterfragt werden, sondern nur den Ausgangspunkt und den Rahmen bilden. Etwas ganz Ähnliches stellt in der Politik die Verfassung eines Staates dar. Sie soll sicherstellen, dass auch in Krisensituationen in Staaten immer genau klar ist, was zu tun ist. Das soll zum Beispiel verhindern, dass jemand durch Tricks die demokratischen Mechanismen ausschalten und eine Diktatur errichten kann. Das Schreiben einer Verfassung braucht Geschick und Kunstfertigkeit, was im Fall des Gelingens durchaus als schön empfunden werden kann, wie es der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen einmal bemerkte. Dazu gehört auch, dass eine Verfassung keine Widersprüche oder Lücken enthält. Diese Anforderung teilt sie mit mathematischen Systemen.

Wenige Jahre nach der Veröffentlichung von Gödels Unvollständigkeitstheorem wurde in Österreich 1933 die Verfassung ausgehebelt, als deren Architekt der große Rechtswissenschafter Hans Kelsen gilt: Der Nationalrat und der Verfassungsgerichtshof wurden ausgeschaltet, und Engelbert Dollfuß errichtete eine Diktatur, in die Gödel nach einer USA-Reise 1934 zurückkehrte. Womöglich trug diese Erfahrung dazu bei, dass Gödel auch bei der US-Verfassung ein mögliches "diktatorisches Schlupfloch" entdeckte, das auch als Gödel’s Loophole bekannt wurde.

Der konkrete Anlass für diese heute höchst aktuelle Entdeckung war, dass Gödel, der mit seiner Frau Adele erst im Jänner 1940 mit dem Umweg über die Sowjetunion in die USA ausgereist war, 1947 mit seiner Gattin die US-Staatsbürgerschaft erhalten sollte. Im Zuge dieses Einbürgerungsprozesses war eine Art Prüfung abzulegen. Der formlose Test sollte für jemanden von Gödels Kaliber eine reine Formalität sein. Doch als die Prüfung näherrückte, tauchten unerwartete Probleme auf: Gödel hatte sich (zu) gründlich vorbereitet.

Einen Tag vor dem Termin erzählte er seinem Freund, dem ebenfalls in Wien ausgebildeten Wirtschaftswissenschafter und Mathematiker Oskar Morgenstern, die US-Verfassung sei fehlerhaft. Es gebe eine Lücke, die es erlaube, das Land in eine Diktatur zu verwandeln, und zwar "völlig legal". Gödels Freunde – inklusive Albert Einstein – waren alarmiert. Man beschwor ihn, seine Entdeckung für sich zu behalten.

Scherzender Einstein

Bei der Zeremonie, die jener Richter vornahm, der auch schon die Einbürgerung Einsteins abgewickelt hatte, war neben Morgenstern auch der Begründer der Relativitätstheorie anwesend, um für Gödel zu bürgen. Der nie um einen Witz verlegene Einstein fragte in die allgemeine Anspannung hinein noch, ob Gödel wohl gut vorbereitet sei, was diesen unheimlich aufregte, Einstein aber über die Maßen erheiterte. Das Gespräch nahm seinen Gang, und alles schien reibungslos zu verlaufen.

Doch als die Rede auf Gödels Herkunftsland Österreich kam, wäre der Formalakt beinahe zum Eklat geworden, wie sich Morgenstern im einzigen schriftlichen Zeugnis der Begebenheit erinnert. Auf die Frage des Richters, welche Regierungsform Österreich hatte, antwortete Gödel: "Es war eine Republik, aber die Verfassung war dergestalt, dass sich das Land letztendlich in eine Diktatur verwandelte." Nachdem der Richter gemeint hatte, dass in den USA so etwas nicht möglich sei, widersprach Gödel: "Doch, ich kann es beweisen." Morgenstern war in Panik, und auch Einstein war nicht mehr zum Lachen zumute.

Der Richter, der Gödel wohlgesinnt war, würgte die Diskussion ab. Die Episode blieb folgenlos, und Gödel erhielt die Staatsbürgerschaft. Beim Abschied bemerkte Einstein noch, das sei Gödels vorletzte Prüfung gewesen. Der psychisch und physisch eher fragile Gödel erschrak – noch eine Prüfung? "Die nächste Prüfung ist, wenn Sie in Ihr Grab steigen", erklärte Einstein. Gödel war verwirrt. "Aber ich steige doch nicht in mein Grab", stellte der Logiker mit der Strenge des ihm eigenen Verstandes das Offensichtliche fest.

Oskar Morgenstern Gödel’s Loophole
Eine Abschrift der Erinnerungen von Oskar Morgenstern an Kurt Gödels Einbürgerungsverfahren.
gemeinfrei

Österreich als Warnung

Was Gödel genau entdeckt hatte, ist bis heute unklar. Oskar Morgenstern nennt keine Details. Es scheint so, als hätte er sich nie bei Gödel über die Details seiner Entdeckung erkundigt. Morgenstern war offensichtlich nicht überzeugt, dass Gödels Einwand relevant war, sondern bezweifelte das "selbstverständlich", wie er in seinem Memorandum schreibt.

Seit dem Bekanntwerden dieses Erinnerungstexts gibt es zahlreiche Spekulationen über das von Gödel entdeckte "Schlupfloch". Der emeritierte österreichische Mathematiker Karl Sigmund, Autor eines Standardwerks über die Philosophengruppe des Wiener Kreises, deren Mitglied Gödel war, betont, dass bisher nur Mutmaßungen möglich sind: "Die einzige schriftliche Quelle ist das Morgenstern-Memo. Man kann vermuten, dass Gödel daran dachte, wie leicht die österreichische Verfassung im Jahr 1933 ausgehebelt werden konnte. Aus Gödels Briefen geht das aber nicht hervor."

Er hält es freilich für möglich, dass etwas in seinen stenografischen Notizbüchern stehen könnte, die derzeit Band für Band transkribiert werden. "Das sind aber noch einige Bände bis dahin. Wir müssen uns also noch ein paar Jahre gedulden", sagt Sigmund.

Eine gängige Variante besagt, dass es beim Schlupfloch um den Artikel 5 geht, wonach mit einer Verfassungsänderung auch das Verfahren zur Verfassungsänderung geändert werden kann. Dieser Vermutung kann auch Thomas Olechowski einiges abgewinnen. Für den Professor für Rechtsgeschichte der Uni Wien und Leiter der Kommission für Verfassungsgeschichte der ÖAW geht das Problem des Artikels 5 noch weiter: "Er kennt überhaupt keine Grenzen. Theoretisch kann mit einem Verfahren nach Artikel 5 auch die ganze Verfassung beseitigt und/oder unmittelbar die Diktatur errichtet werden – ebenso wie dies nach Artikel 44 Absatz 3 des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes möglich ist."

Die deutsche Verfassung habe hier immerhin eine "Ewigkeitsklausel" (Artikel 79 Abs. 3 Grundgesetz) eingebaut, wonach bestimmte Verfassungsänderungen keinesfalls gemacht werden dürfen. "Ob dies geeignet ist, eine Diktatur zu verhindern, ist heftig umstritten", ergänzt Olechowski. Der Autor einer monumentalen Kelsen-Biografie hat aber noch weitere, ganz grundsätzliche Bedenken anzumelden: "Meines Erachtens kann jede Verfassung ausgehebelt werden, wenn die Menschen, die an der Macht sind, einfach nicht bereit sind, sie zu schützen – die Ausschaltung des Nationalrates und des Verfassungsgerichtshofes 1933 und alles, was danach folgte, sind ein gutes Beispiel dafür."

Gefährliche "Formalakte"

Wenn es um die USA geht, denkt Olechowski "natürlich an den Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner 2021, der ja erfolgte, weil an diesem Tag Senat und Repräsentantenhaus in einer gemeinsamen Sitzung die Stimmen der Wahlmänner auszählten". Ein derartiges Verfahren gebe es in Österreich nicht. In den österreichischen Medien sei damals betont worden, dass es sich bei dieser Auszählung nur um einen "Formalakt" handle, so Olechowski. "Aber tatsächlich hätte es Mike Pence damals in der Hand gehabt, die Wahl zu beeinspruchen und das Land damit ins Chaos zu stürzen."

Jeder "Formalakt" dieser oder ähnlicher Art birgt für Olechowski aber die Gefahr, dass er dann doch irgendwie missbraucht wird. „Mein Eindruck ist, dass es im angloamerikanischen Rechtsbereich mehr solche ,Formalakte‘ gibt als in Kontinentaleuropa und dass daher Europäer wie Gödel hier mehr Gefahrenpotenzial sehen können, als es ein US-Amerikaner üblicherweise tut."

Dass Gödels Verfassungskritik nicht ganz so "selbstverständlich" falsch sein muss, wie Morgenstern glaubte, legt auch eine andere seiner Arbeiten nahe. In seinem Nachlass fand sich, neben vielen anderen Dingen, eine Skizze für einen Gottesbeweis. Dieser Beweis wurde in den vergangenen Jahrzehnten ausführlich untersucht. Bei einer Analyse mit Computermethoden zeigte sich tatsächlich ein kleiner Fehler, der korrigiert werden konnte. Inzwischen gilt der Beweis, der auf einem historischen Gottesbeweis des Anselm von Canterbury basiert, als logisch korrekt und beweist die Existenz Gottes – sofern man bereit ist, die etwas speziellen Axiome zu akzeptieren. Die Arbeit beweist jedenfalls einmal mehr, dass Gödel keinerlei Schwierigkeiten hatte, relevante Beiträge in für ihn fremden Gebieten zu liefern.

Geplantes Denkmal für Gödel

In Österreich ist Gödel aus der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend verschwunden. Dabei war er ein wichtiger Teil der Wiener Geisteswelt, er studierte an der Universität Wien, wo sich seine Erstinskription heuer zum hundertsten Mal jährt, und veröffentlichte hier seine bahnbrechenden Arbeiten zu Grundlagenproblemen zur Logik. Zwar gibt es an sämtlichen Häusern Wiens, in denen Gödel wohnte, Gedenkplaketten. Doch ein Denkmal für den Jahrhundertlogiker (Jahrtausendlogiker, wenn es nach Einstein geht) sucht man in Wien vergeblich, was bei internationalen Fachleuten zuweilen für Verblüffung sorgt.

Bestrebungen mehrerer Fakultäten (Mathematik, Informatik, Physik und Philosophie) der Universität Wien, eine Gedenktafel an einem freien Platz im Arkadenhof des Hauptgebäudes zu platzieren, erteilte die Uni-Leitung kürzlich eine Absage und sicherte die Unmöglichkeit des Aufstellens einer weiteren Büste gleich per Statutenänderung ab: Nachdem im Anschluss an den 650-Jahr-Jubiläum von Gödels Alma Mater 2016 sieben neue Büsten – erstmals von Wissenschafterinnen – in diesem Walhalla der Wiener Geistesgrößen aufgestellt worden waren, sollte nun Schluss sein.

Doch inzwischen gibt es gute Nachrichten: In einer schriftlichen Erklärung der Universität verspricht man, die richtige Form für ein Denkmal für Gödel zu finden, das dem großen Denker gerecht wird. Termin gibt es noch keinen. Und vielleicht ist es gar nicht unpassend, ihn nicht im Arkadenhof in eine Reihe mit den anderen zu stellen, stand er doch zeit seines Lebens auf der Metaebene über ihnen – wie eben die Logik über allen Wissenschaften steht. (Reinhard Kleindl, Klaus Taschwer, 4.7.2024)