Dass es in der Gioventù Nazionale von Rechtsextremisten nur so wimmelt, ist in Italien seit Jahren ein offenes Geheimnis. Nun hat aber das Online-Newsportal fanpage.it mit einer Undercover-Recherche das ganze Ausmaß einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht: Journalisten des Portals gaben sich als Sympathisanten der Meloni-Jugend aus und haben sich so in die Gioventù Nazionale eingeschleust. Bei inoffiziellen Veranstaltungen hinter verschlossenen Türen drehten sie heimlich Videoaufnahmen und nahmen die Gespräche auf. Die veröffentlichten Ausschnitte daraus lassen dem größten Teil des italienischen Publikums die Haare zu Berge stehen.

Giorgia Meloni hat ein Problem mit der Parteijugend.
EPA/RICCARDO ANTIMIANI

Zu sehen und zu hören sind junge Meloni-Anhänger, die "Sieg Heil" rufen, dem Duce und dem Nationalsozialismus huldigen, den rechten Arm zum faschistischen "römischen Gruß" recken. Zu vernehmen sind auch übelste rassistische und antisemitische Einlassungen über "Neger" und Juden. Die 93-jährige Auschwitz-Überlebende und Senatorin auf Lebenszeit Liliana Segre, die sich die "Sieg Heil"-Rufe der KZ-Aufseher noch persönlich hatte anhören müssen, fragte in einer TV-Sendung: "Muss ich mir das alles noch einmal ansehen? Werde ich erneut aus meinem Land gejagt wie schon einmal?" Die Mailänder Jüdin Segre war 1944 im Alter von 14 Jahren nach Auschwitz deportiert worden und trägt noch heute die eintätowierte Häftlingsnummer 75190 auf dem Unterarm.

Distanzierung

Die in zwei Teilen publizierten Recherchen über die Gioventù Nazionale sorgen in Rom seit Tagen für Gesprächsstoff – und bringen Regierungschefin Giorgia Meloni zunehmend unter Druck. Am Rande des Treffens der EU-Staats- und Regierungschefs erklärte sie, dass es sich um "Einstellungen" handle, "die mit jenen der Fratelli d'Italia nicht vereinbar sind". Schon zuvor hatte der Parlamentarier Giovanni Donzelli, Parteifreund und enger Vertrauter von Meloni, in einem ähnlich lautenden Statement betont, dass es "in unserer Partei keinen Platz für Extremisten, Rassisten und Antisemiten" gebe.

Aber die Aufzählung der unerwünschten Gesinnungen war nicht ganz vollständig: Es fehlten die Faschisten. Das hat System: Meloni weigert sich seit ihrem Amtsantritt vor knapp zwei Jahren beharrlich, sich als Antifaschistin zu bezeichnen. Das bedeutet nicht, dass sie selber faschistisches – und damit demokratiefeindliches – Gedankengut vertritt: Selbst ihr schärfster Kritiker, der linke Journalist und Autor Roberto Saviano, attestiert Meloni, dass sie sich auf dem Boden des demokratischen Rechtsstaats bewege, auch wenn sie eine teilweise autoritäre und illiberale Linie verfolge. Aber die unvollständige Aufzählung zeigt eben auch, dass Faschisten in ihrer Partei weiterhin Platz haben.

Duce-Nostalgiker

Melonis wichtigster Grund, sich nicht ein für allemal und eindeutig vom Faschismus abzugrenzen, besteht darin, dass sie die Duce-Nostalgiker in ihrer eigenen Partei nicht verprellen will. Davon gibt es bei den Fratelli d'Italia immer noch viele, und einige von ihnen bekleiden hohe Ämter. Senatspräsident Ignazio La Russa (der im Fall einer Amtsunfähigkeit oder beim Tod von Staatspräsident Sergio Mattarella automatisch zu dessen Interimsnachfolger würde) hat eine Büste von Diktator Benito Mussolini auf dem Kaminsims stehen. Melonis Schwager und Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida schwadroniert von einer "ethnischen Ersetzung", die wegen der Immigration drohe. Die Liste der rechtsextremen Entgleisungen aus Melonis Umfeld ließe sich beinahe beliebig verlängern.

Die "Baby-Faschos" und "Jung-Schwarzhemden", wie die extremistischen Mitglieder der Meloni-Jugend von den italienischen Medien genannt werden, tun also nicht viel anderes, als das zu imitieren, was sie von den ewiggestrigen Erwachsenen in der Meloni-Partei abgeschaut haben. Und als Jungpolitikerin und Mitglied der damaligen postfaschistischen Jugendfront hatte ja auch Meloni selber Mussolini noch als "besten Staatsmann der letzten 50 Jahre" bezeichnet. Durch den Wahlsieg Melonis fühlten sich die jungen Neofaschisten in ihrer Mussolini- und Hitler-Verehrung gedeckt und geradezu "ermuntert", betont Paolo Berizzi, einer der versiertesten Kenner der neofaschistischen Szene Italiens.

Schlammlöcher

Inzwischen gehen freilich auch alte Weggefährten Melonis auf Distanz und raten der Regierungschefin, über ihren eigenen Schatten zu springen und sich aus der Umarmung der Nostalgiker zu lösen. "Meloni muss Führung zeigen und die letzten Schlammlöcher des Faschismus trockenlegen. Und die Partei muss sie dabei unterstützen", betonte der Rechtsintellektuelle Alessandro Giuli diese Woche im Corriere della Sera. Der 48-jährige Giuli kennt die nur ein Jahr jüngere Meloni noch aus seiner eigenen Zeit bei der Jugendfront. Er schätzt die Zahl der Italienerinnen und Italiener, die noch faschistischem Gedankengut anhängen, auf höchstens zwei Prozent. "Auf diese Wählerinnen und Wähler können wir gut verzichten", betont Giuli.

Offenbar wird sich allmählich auch Meloni bewusst, wie sehr die Videos mit den Extremisten in ihrer Jugendorganisation mit dem moderaten politischen Profil kontrastieren, das sie sich auf der internationalen Bühne bisher gegeben hat – und wie groß der Imageschaden für das von ihr regierte Italien zu werden droht, wenn sie nun nicht energisch durchgreift. Medienberichten zufolge versuchen die Parteispitzen der Fratelli d'Italia nun, aufgrund der von fanpage.it veröffentlichten Videos die Rädelsführer der "Baby-Faschos" zu identifizieren. Dem Vernehmen nach soll gegen mindestens ein Dutzend von ihnen ein Ausschlussverfahren eingeleitet werden. (Dominik Straub aus Rom, 3.7.2024)