Neun Jahre hat der Oberste Gerichtshof Brasiliens gebraucht – so heikel und umstritten ist das Thema. Nun wurde Marihuana für den persönlichen Gebrauch auch im größten und bevölkerungsreichsten Land Lateinamerikas entkriminalisiert. Mit seinen 203 Millionen Einwohnern folgt Brasilien Ländern wie Uruguay, Kolumbien und Mexiko. Aufgrund der Widerstände im konservativ dominierten Kongress wählten Aktivisten in Brasilien wie zuvor auch schon in Mexiko den Rechtsweg und klagten sich durch die Instanzen. Einer der Fälle, an denen die Klage festgemacht wurde, war der einer Person, die wegen eines Gramms Marihuana zu sechs Jahren und neun Monaten Haft verurteilt worden war.

Seit Jahren finden in Brasilien regelmäßig Kundgebungen für die Legalisierung von Marihuana statt.
EPA/Isaac Fontana

Dem Beschluss zufolge darf jeder Einzelne bis zu sechs Pflanzen und 40 Gramm Cannabis – genug für 80 Joints – besitzen, ohne bestraft zu werden. Ein Gesetz aus dem Jahr 2006 erlaubte bereits den medizinischen Gebrauch der Droge. Ein Freibrief ist das allerdings nicht: Der Verkauf von Marihuana bleibt strafbar. Wer beim Rauchen erwischt wird, muss weiterhin mit einer Verwaltungssanktion rechnen – und mit der Beschlagnahmung der Droge. In der Urteilsbegründung sagte der Oberste Richter Luís Roberto Barroso, dass das Urteil den Marihuanakonsum nicht gutheiße oder legalisiere. "Es ist eine Antwort auf das Scheitern der bisherigen Drogenpolitik, die zu einer massenhaften Inhaftierung armer Jugendlicher geführt hat und viele von ihnen in die organisierte Kriminalität treibt."

Skepsis

Brasilianische Aktivisten begrüßten das Urteil mit zwiespältigen Gefühlen. "Das Geld für den Kampf gegen Marihuana kann nun sinnvoller ausgegeben werden", sagte der Medizinstudent Davi Marques. Das Medienkollektiv Agencia Pública war skeptischer. "Der Berg gebar eine Maus", titelte das Portal. In der Praxis werde sich kaum etwas ändern, hieß es. "Jeder, der im Besitz von Marihuana erwischt wird, muss auf eine Polizeiwache, wo geprüft wird, ob es sich um Drogenkonsum oder Drogenhandel handelt."

Es gibt inzwischen zahlreiche wissenschaftliche Studien, die belegen, dass Marihuana weniger gesundheitlichen und gesellschaftlichen Schaden erzeugt als Alkohol. Aktivisten wollen, dass Drogenkonsum nicht mehr als Sicherheits-, sondern als Gesundheitsproblem betrachtet wird. Damit würden Abhängige zu Patienten und nicht mehr zu Kriminellen. Die Entkriminalisierung ist ein Beitrag, die notorisch überfüllten Gefängnisse zu entlasten. Brasilien hat nach den USA und China die meisten Häftlinge weltweit. Die Gefängnisse gelten als "Akademien des Verbrechens". Jeder Häftling wird bei seiner Einlieferung gezwungen, sich einer kriminellen Bande anzuschließen.

Repressiver Ansatz

Die Sicherheitskräfte haben bei der Strafverfolgung zudem eine rassistische Brille auf. In Brasilien sind 61 Prozent der wegen Drogenbesitzes verurteilten Gefängnisinsassen Schwarze, obwohl sie nur 27 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Studien haben gezeigt, dass tausende schwarze Brasilianer in Situationen verurteilt wurden, die bei Weißen zu einer geringeren oder gar keiner Anklage geführt hätten.

Dieser repressive Ansatz war in ganz Lateinamerika seit den 1970er-Jahren vorherrschend. Erst 2012 erklärten Amerikas Staats- und Regierungschefs auf einem historischen Gipfeltreffen den Drogenkrieg für gescheitert. Nach über vier Jahrzehnten und Ausgaben von rund 100 Milliarden US-Dollar gebe es nicht weniger, sondern mehr Drogen und mehr Abhängige, erklärten sie. Die Drogenmafia erwirtschaftet nach Schätzung des UN-Büros gegen Drogen und Kriminalität jährlich schätzungsweise 320 Milliarden US-Dollar – doppelt so viel wie vor zehn Jahren. Der Drogenkrieg hat in den Herkunfts- und Transitländern in Lateinamerika eine Gewaltspirale in Gang gesetzt, die diese zu destabilisieren droht.

Mehrheit gegen Legalisierung

Die öffentliche Meinung verabschiedet sich trotzdem nur sehr langsam von der repressiven Drogenpolitik. Während laut dem Umfrageinstitut Gallup 70 Prozent der US-Amerikaner für eine Legalisierung von Marihuana sind, beläuft sich der Anteil in Mexiko auf 60 Prozent, in Kolumbien auf 43 Prozent und in Brasilien nur auf rund 30 Prozent. Die bloße Vorstellung der Drogenlegalisierung erschreckt Millionen brasilianischer Eltern, die tagtäglich mit dem Drogenproblem konfrontiert werden – sei es, dass Kriminelle ihre Kinder anwerben, Junkies ganze Straßenzüge besetzen oder Banden sich wegen der Kontrolle von Drogenverkaufspunkten bekriegen.

Brasiliens rechter Ex-Präsident Jair Bolsonaro sprach deshalb von einem demoralisierenden Urteil für die Polizisten und bezeichnete es als "Schlag ins Gesicht der Familien". Auch der Präsident des Senats, Rodrigo Pacheco von der rechten Demokratischen Partei, kritisierte, es sei nicht Aufgabe des Obersten Gerichtshofs, eine Entscheidung in dieser Angelegenheit zu treffen. "Das muss der Gesetzgeber tun." Der geht jedoch genau den entgegengesetzten Weg. Im April billigte der Senat eine Verfassungsänderung, die den Besitz jeglicher Menge illegaler Substanzen unter Strafe stellt. Sie muss jedoch noch ein paar Ausschüsse passieren, bevor sie zur Abstimmung kommt.

Sollte der Gesetzgeber eine solche Maßnahme verabschieden, käme es vermutlich zu einer Verfassungsklage. Für die Konsumenten würde dies trotz des Urteils bedeuten, dass sie weiterhin der Willkür der Polizei und dem sehr weiten Ermessensspielraum von Richtern ausgeliefert wären. (Sandra Weiss, 2.7.2024)