Keir Starmer von der Labour Party bei einem Wahlkampfauftritt.
Ist eigentlich als Brexit-Kritiker bekannt: Keir Starmer von der Labour Party.
Foto: REUTERS/Chris J Ratcliffe

Praktisch alle sind sich einig. Vor den Parlamentswahlen am 4. Juli in Großbritannien prognostizieren die Umfragen der Labour Party von Keir Starmer einen Erdrutschsieg gegen die regierenden Tories von Noch-Premier Rishi Sunak. Starmer, der voraussichtlich neue Bewohner der Downing Street Nr. 10, ist als Brexit-Kritiker bekannt und hat sich nach dem unerwarteten Ja der Briten für den EU-Austritt im Jahr 2016 engagiert für ein zweites Referendum eingesetzt. Inzwischen möchte auch eine Mehrheit der Bevölkerung wieder in die EU.

Aber steht das bisher Undenkbare, eine Rückkehr Großbritanniens in die Europäische Union, damit wieder auf der Agenda? Nicht wirklich. Im Wahlkampf spielten der Brexit und die EU kaum eine Rolle. Labour schloss trotz der proeuropäischen Haltung der meisten seiner führenden Köpfe einen Wiedereintritt in den Binnenmarkt oder eine Zollunion und auch die Personenfreizügigkeit mit der EU explizit aus. Zudem verspricht die Mitte-links-Partei im Wahlprogramm, den Brexit endlich "zum Laufen zu bringen".

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Hinter der widersprüchlichen Position Labours verbirgt sich vor allem politisches Kalkül. Einerseits rangieren die Europäische Union und der Brexit bei den Wählerinnen und Wählern weit hinter Themen wie Migration, Teuerung oder Wirtschaftskrise, auch wenn es mittlerweile eine deutliche Mehrheit für eine Rückkehr in die Union gibt. Starmer hat erkannt, dass sich daraus kein politisches Kapital schlagen lässt. Andererseits wären für einen Wiedereintritt in die EU enorme Zugeständnisse der britischen Regierung an Brüssel notwendig. Innenpolitisch würde das für Starmer eine schwere Hypothek bedeuten, die er nach Kräften vermeiden wird.

"Der Austritt aus der EU hat das Vereinigte Königreich etwa drei bis fünf Prozent seiner Wirtschaftsleistung gekostet."

Zudem ist es äußerst unwahrscheinlich, dass dem Vereinigten Königreich beim Wiedereintritt in die EU dieselben Vorzugsbedingungen einschließlich vieler Ausnahmeregelungen gewährt würden, wie sie London in der Vergangenheit genossen hat. Außerdem bliebe der grundsätzliche Konflikt zwischen dem Brüssel-skeptischen Großbritannien, das auf keinen Fall zu viel Souveränität abgeben will, und einer sich politisch und wirtschaftlich immer enger verzahnenden Union bestehen. Die Eurokrise vor einem Jahrzehnt und die Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie mit hunderten Milliarden an Wiederaufbauhilfen haben die europäische Integration wesentlich intensiviert. All das wissen auch die Labour-Strategen, weshalb ein Wiedereintritt momentan keine realistische Option darstellt.

In Luft aufgelöst

Die neue Labour-Regierung unter Keir Starmer wird jedenfalls den Großteil der Aufräumarbeiten des Brexit-Schlamassels zu bewältigen haben. Der Austritt aus der EU hat das Vereinigte Königreich etwa drei bis fünf Prozent seiner Wirtschaftsleistung gekostet. Neue Handelsabkommen wie etwa jenes mit Neuseeland haben kaum wirtschaftliche Vorteile gebracht. Das erhoffte Abkommen mit den USA ist nie zustande gekommen. Das Versprechen, die britische Wirtschaft durch mehr Handel mit Drittstaaten anzukurbeln, hat sich also in Luft aufgelöst. Trotz des Austritts aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion (auch wenn es hier für Nordirland eine Ausnahmeregelung gibt) ist das Vereinigte Königreich stärker auf den Handel mit der EU angewiesen als vor dem Brexit.

Auch politisch ist das Projekt Brexit kläglich gescheitert. Russlands Überfall auf die Ukraine, die verschärften geopolitischen und geoökonomischen Spannungen zwischen China und den USA, aber auch die Aussicht auf eine zweite, protektionistisch und isolationistisch angehauchte Amtszeit von Donald Trump haben alle Illusionen zunichte gemacht, wonach ein Austritt aus der EU dem Vereinigten Königreich die Möglichkeit geben könnte, "in die Welt hinauszugehen", wie es die Zeitschrift Spectator 2016 formulierte. Die Notwendigkeit, die Ukraine zu unterstützen, macht eine Zusammenarbeit zwischen London und der EU im Verteidigungsbereich unumgänglich.

Erschreckende Liste

Wenn die neue britische Regierung einen Teil des wirtschaftlichen Schadens, den der Brexit angerichtet hat, durch eine Wiederannäherung an die EU rückgängig machen kann, wird ihr das wertvollen Spielraum verschaffen, um die erschreckende Liste der wirtschaftlichen Herausforderungen im Inneren zu bewältigen. Dazu zählen eine sehr schwierige Haushaltslage, marode öffentliche Dienstleistungen wie das angeschlagene Gesundheitssystem und der schlecht funktionierende öffentliche Verkehr, die die Folge jahrzehntelanger Unterfinanzierung sind. Auch die Reallöhne und die Arbeitsproduktivität sind in den letzten 15 Jahren nicht gestiegen.

Eine neue Regierung unter Labour-Chef Starmer hätte also viele gute Gründe für ein Zugehen auf die EU. Das wahrscheinlichste Szenario dafür dürften zahlreiche "Mini-Deals" sein, zum Beispiel zur gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen oder zum Abbau von Handelshemmnissen bei Lebensmitteln. Letzteres würde eine Anpassung an EU-Rechtsvorschriften und die Anerkennung der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs voraussetzen. Keir Starmer hat angekündigt, dass er dazu bereit wäre.

Eine rechtliche Angleichung an EU-Standards als Gegenleistung für einen verbesserten Marktzugang dürfte auch in anderen Sektoren möglich sein. Hier können die Freihandelsverträge, die die EU mit der Ukraine, Moldau und Georgien geschlossen hat, als Orientierung dienen. Eine von Starmer geführte Regierung wird es der EU zwar leichter machen, mit dem Vereinigten Königreich zusammenzuarbeiten. Sie wird sich aber hüten, den Brexit rückgängig zu machen. (Richard Grieveson, 3.7.2024)