Spoiler: Der geht drüber.
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Frankfurt – Und wieder trat er an. Die Beine breit aufgestellt, hyperfokussierter Blick aufs Tor, all die über die Jahrzehnte perfekt herausgeschliffenen Muskeln noch einmal aufs Maximum angespannt. Ein kräftiges Ausatmen, ein paar Schritte Anlauf, eine Gewalttat von einem Schuss, wie immer drüber, Abstoß.

Cristiano Ronaldo schießt keine besonders guten Freistöße. Das ist keine Privatmeinung des STANDARD, das ist die recht simple Analyse seiner 60 Versuche für Portugal bei Großereignissen. Genau einer ging ins Tor, Spanien war bei der WM 2018 das unglückliche Opfer. Kritiker notierten die magere Ausbeute, während Portugal im Achtelfinale gegen Slowenien mit 0:0 auf das Elfmeterschießen zusteuerte – auch weil der 39-jährige Ronaldo mehrere gute Freistoßgelegenheiten wechselweise in den Himmel oder mit Laserpräzision auf Goalie Jan Oblak schoss.

Ronaldos ewiges Freistoßverschießen ist eine Miniatur des größeren Problems, das Portugal mit sich herumschleppt: Hier ist ein Spieler der Fixpunkt der Mannschaft, der als Edeljoker, Non-playing-Captain oder Maskottchen besser aufgehoben wäre. Nie wurde das so offensichtlich wie im Achtelfinale. Mit jeder verronnenen Minute wurde klarer, dass Ronaldos großer Moment, den er mit so viel Gewalt und so wenig Finesse erzwingen wollte, an diesem Abend in Frankfurt nicht mehr kommen würde.

Jedes Land, das sich für diese EM qualifiziert hat, hätte zu diesem Zeitpunkt eine bessere Option auf der Bank parat gehabt als diesen erschöpften, glücklosen 39-Jährigen, der seit geraumer Zeit in Saudi-Arabien kickt. Gerade Portugal geht vor Stürmerqualität über, da schmorten unter anderem noch Goncalo Ramos von PSG, der im vergangenen WM-Achtelfinale drei Tore geschossen hatte, Joao Felix, der immer für ein Dribbling gut ist, oder Rechtsaußen Pedro Neto.

Kein Auswechseln

Aber Ronaldo blieb. Fast so, als hätte eine höhere Macht Roberto Martinez verboten, die Nummer sieben aus dem Spiel zu nehmen. Ronaldo wurde nicht mehr ganz so zwanghaft mit Bällen gefüttert wie noch im ersten Match gegen Tschechien, aber wenn ein Teamkollege im Angriffsdrittel eine falsche Entscheidung traf, war das meist der irrige Versuch, dem Volkshelden ein Tor aufzulegen.

Man kann die Wechselverweigerung von Martinez verstehen. Eine Nationalmannschaft ist auch ein Netzwerk von Beziehungen, Eitelkeiten und Machtgefällen. Womöglich will wirklich die ganze Mannschaft, dass Ronaldo noch ein paar Minuten bekommt, um endlich seinen Glücksmoment zu finden. Vielleicht würde sie aber auch einfach gerne Europameister werden und dafür auch den Stolz ihres Stars runterspülen.

Immer im Zentrum

Dass seine beste Zeit lange vorüber ist, scheint Ronaldo nicht wahrzunehmen. Wie auch? Bei Portugals öffentlichem Training in Gütersloh brachte die Polizei insgesamt 13 Selfie-wütige Flitzer vom Feld, zehn Erwachsene und drei Kinder. Mehrere Portugal-Spiele mussten aus demselben Grund unterbrochen werden. Ronaldo, Ronaldo, Ronaldo! Georgiens Star Kvicha Kvaratskhelia brach beim historischen Achtelfinaleinzug seiner Mannschaft den Jubelsprint mit dem Rest der Mannschaft ab, riss sich zusammen und spazierte pseudoentspannt zum Leiberltausch mit Ronaldo. Danach schwärmte er im Interview von seinem Idol. Ronaldo, Ronaldo, Ronaldo!

Wie soll der Mittelpunkt allen Hypes denn auf die Idee kommen, dass er nur mehr einer von vielen ist?

Auch Mitarbeiter des portugiesischen Teams mussten beim Training in Gütersloh zum Flitzer-Abfangen herhalten.
IMAGO/Hesham Elsherif

CR7 spürt die Verantwortung, das war offensichtlich. Nachdem er in der Verlängerung mit einem Elfmeter an Oblak gescheitert war, brach er in Tränen aus. Es war kein schlechter Elfer, aber es war eine bessere Reaktion eines großartigen Torhüters. Und es war würdig und recht, dass Ronaldo den Strafstoß an sich riss. Er kann das ungleich besser als Freistöße. 84 Prozent sind vom Punkt eine gute Quote, vor Oblaks Parade hatte Ronaldo laut "Transfermarkt"-Daten gegen die Goalie-Elite der saudischen Liga 20 Elfmeter en suite verwertet, wobei etwaige Penaltyschießen hier nicht in die Statistik einfließen. Dass es nicht am Druck lag, belegte sein verwerteter Versuch im Elferschießen. Hätte Goalie Diogo Costa da nicht drei slowenische Elfer pariert, wäre Ronaldo der Held des Viertelfinaleinzugs gewesen.

Wer sagt es ihm?

Wie geht es also weiter, wenn Portugal am Freitag Frankreich fordert? Ronaldos Parallelen zu Noch-US-Präsident Joe Biden sind offensichtlich. Es ist Teil des Problems, wie sehr er die Verantwortung spürt. Denn er ist kein Mann, der sich selbst auswechselt. In jeder Sekunde seines Fußballerlebens glaubt er, der Beste, der Verdienteste, der Richtige auf dem Feld zu sein. "Ich gebe immer mein Bestes für dieses Trikot und werde das mein Leben lang tun", sagte er nach dem Match.

CR7 ist kein Privilegienritter, der sich auf alten Errungenschaften ausruht. Gewiss glaubt er wirklich, dass der nächste Freistoß drin ist, dass er den nächsten Stanglpass verwertet und den nächsten Schuss aus 22 Metern ins Kreuzeck statt in den zweiten Rang betoniert. Es war auch dieses Selbstvertrauen, das ihn zu einem der erfolgreichsten Kicker aller bisherigen Zeiten gemacht hat. Es hat ihn zu 759 Toren in 1013 Spielen und einer absurden Trophäensammlung geführt. Soll ein zweiter EM-Titel dazukommen, sollte er aber zumindest bei Freistößen einen Schritt zurück machen. Und damit ist nicht ein noch längerer Anlauf gemeint. (Martin Schauhuber, 2.7.2024)