Diese Aufnahme stammt aus Kreta, wo im Herbst 2022 ein Boot mit Migranten ankam. Aktuell steigen die Zahlen der Ankommenden wieder deutlich.
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An der griechisch-türkischen Grenze nimmt der Migrationsdruck wieder zu. Seit 2019 sind nicht mehr so viele Migranten und Migrantinnen über die Ägäis oder den Fluss Evros aus der Türkei nach Griechenland gekommen wie dieses Jahr. Dies gab das griechische Ministerium für Migration und Asyl kürzlich bekannt. In den ersten Monaten dieses Jahres stiegen die Ankünfte um 154 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Besonders viele Menschen kommen demzufolge über den Evros in Nordgriechenland.

Im Jahr 2021 kamen von Jänner bis April knapp über 2000 Menschen, im Jahr 2022 waren es etwa 3500, im vergangenen Jahr kamen 4660 Migranten, heuer lag die Zahl der Ankünfte vom Jahresanfang bis April bereits bei knapp 12.000. Auch die Zahl der Menschen, die sich in den Migrationszentren auf den Inseln und auf dem griechischen Festland aufhalten, hat sich in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Auf den griechischen Inseln sind zurzeit rund 18.000 Geflüchtete untergebracht. Sie werden aber erheblich schneller aufs Festland gebracht als noch vor ein paar Jahren.

Kaum beschleunigte Verfahren

Die deutsche Migrationsforscherin Jutta Lauth Bacas, die kürzlich zu Forschungszwecken auf Lesbos war, berichtet, dass die meisten Menschen, die zurzeit ankommen, aus Afghanistan oder Syrien kommen. Im Camp auf Lesbos sind über 60 Prozent Afghanen, 18 Prozent Syrer und fünf Prozent Jemeniten. 53 Prozent der Geflüchteten sind männlich, 20 Prozent sind Frauen, und 27 Prozent sind minderjährig. Es handelt sich also mehrheitlich um Geflüchtete, deren Asylanträge in Griechenland mit großer Wahrscheinlichkeit positiv beschieden werden. Dieser Umstand ist auch deshalb interessant, weil der neue EU-Migrationspakt vorsieht, Asylwerber mit einer geringen Anerkennungsquote in ein beschleunigtes Grenzverfahren zu bringen.

Angesichts der Herkunftsländer der Geflüchteten kommen solche beschleunigten Grenzverfahren allerdings für die allermeisten nicht infrage. "Zwei Drittel der nach Griechenland Geflüchteten kommen aus Kriegsländern", so Lauth Bacas zum STANDARD. Es ist deshalb unklar, wie viele Menschen überhaupt in die Schnellverfahren in den geschlossenen Lagern kommen werden.

Neue Camps

Auf Lesbos wird ein neues Zentrum in Vastria im Landesinneren gebaut, es soll im November fertiggestellt sein. Ein Teil des neuen Camps – für 2000 von insgesamt 5000 Personen – soll geschlossen sein. Die Migranten, die in diesem Teil untergebracht werden, werden das Lager nicht verlassen dürften. Dieser Teil des Lagers ist für die im EU-Migrationspakt vorgesehenen schnellen Grenzverfahren vorgesehen.

Zurzeit gibt es auf Samos ein Camp mit "kontrolliertem Zugang". Die Menschen können zwar aus diesem Lager – mittels Chipkarten – raus, aber der Aus- und Eingang wird streng kontrolliert, und die Menschen können auch nicht jederzeit ein und aus gehen. In den griechischen Camps gibt es seit Jahren Hafteinheiten für Menschen, die eine Gefahr für andere darstellen oder gegen die ein anderer Haftgrund vorliegt. Haftzellen für 200 Personen gab es etwa auch im ehemaligen Lager Moria, das 2020 angezündet und zerstört wurde. Es handelte sich um einen Teil der polizeilichen Organisationsstruktur.

Die neuen geschlossenen Camps für Menschen, die in Schnellverfahren kommen sollen, haben jedoch rechtlich mit diesen Haftzellen nichts zu tun. Denn im Fall der Migranten, die in die Schnellverfahren kommen sollen, liegt gar kein Haftgrund vor. Ein geschlossenes Lager wird auch in Albanien errichtet. Dort sollen Migranten, die in Italien um Asyl ansuchen, untergebracht werden. Das albanische Modell ist das erste eines EU-Staats, das vorsieht, Geflüchtete in einem Drittland unterzubringen, also hoheitsrechtliche Aufgaben auszulagern. Auf dem westlichen Balkan befinden sich zurzeit etwa 2900 Geflüchtete; die meisten von ihnen, etwa 1500, in Bosnien und Herzegowina.

Alter Pakt mit der Türkei

Lauth Bacas verweist darauf, dass die notwendigen nationalen Gesetze zur Umsetzung des EU-Migrationspakts erst in Ausarbeitung sind. "Die einzelnen Mitgliedsstaaten haben Spielraum, weil es sich nicht um eine EU-Direktive, sondern nur um einen politischen Konsens der EU-Staaten handelt", erklärt sie dem STANDARD. Angesichts der Idee von deutscher Seite, das alte Abkommen mit der Türkei zu revitalisieren, verweist Lauth Bacas darauf, dass die Türkei seit 2020 gar keine Migranten von Griechenland zurücknimmt. Zudem habe auch das alte Abkommen in einigen anderen Punkten nie funktioniert. Eigentlich sollten syrische Flüchtlinge aus der Türkei umgesiedelt und andere im Gegenzug zurückgeschickt werden. Doch das geschah nie.

Von Lesbos berichtet sie auch Positives. So fanden in den letzten Monaten dort vier Jobmessen für Geflüchtete statt. Asylwerber und Asylwerberinnen – egal ob sie Chancen auf einen Schutzstatus haben oder nicht – dürfen nun zwei Monate mit Bewilligung der Behörden arbeiten. 30 Arbeitgeber aus dem Tourismussektor, der Bau-, Abfall- und Landwirtschaft haben sich auf der jüngsten Jobmesse im Frühjahr 2024 gemeldet. Hunderte Asylwerber wurden erfolgreich vermittelt. In Österreich ist so etwas bislang nicht möglich.

Illegale Pushbacks

Angesichts der steigenden Migration nach Griechenland kommen auch wieder mehr Menschen in der Ägäis ums Leben. Vor zehn Tagen konnte eine Gruppe von 77 Migranten von einer beschädigten Segelyacht gerettet werden. Die griechische Küstenwache machte zuletzt aber auch negative Schlagzeilen: Die BBC berichtete kürzlich davon, dass die griechische Küstenwache Pushbacks durchführe, die den Tod von Migranten zur Folge hätten. Seit vielen Jahren gibt es Berichte über Pushbacks der griechischen Küstenwache.

Lauth Bacas meint, dass es schwierig sei, die Aussagen der Migranten so zu verifizieren, dass es auch zu einem Gerichtsverfahren gegen Beamte der griechischen Küstenwache kommen könnte. "Da steht dann oft Aussage gegen Aussage", so die Sozialanthropologin. Nach einem Videobericht der New York Times vom Vorjahr war es bereits zu Untersuchungen in der griechischen Küstenwache gekommen. Auch die zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson hatte dies verlangt. Es wurde eruiert, wer bei der Küstenwache wann im Einsatz war; auch die verantwortlichen Offiziere wurden befragt. Diese Aussagen wurden dann an Marinegerichte in Piräus weitergeleitet. Aber zu einem Verfahren ist es bisher nicht gekommen.

Solche illegalen Pushbacks an der griechisch-türkischen Grenze werden seit Jahren beschrieben. "Es gibt viele Zeugenaussagen dazu", so Lauth Bacas. "Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass das wirklich passiert." Laut den Zeugenaussagen werden Geflüchtete kurz nach ihrer Ankunft auf der Insel wieder aufs offene Meer gebracht und dort in Rettungsinseln gesetzt. Die Strömung und die Wellen treiben die motorlosen Rettungsinseln zurück in türkische Gewässer, wo sie zumeist von der türkischen Küstenwache gerettet werden. Lauth Bacas verweist darauf, dass solche manövrierunfähigen Rettungsinseln keine sicheren Verkehrsmittel sind. "Das bedeutet, dass die Migranten sich in Seenot befinden und die griechische Küstenwache eigentlich die Verpflichtung hätte, sie zu retten."

Es gibt auch Klagen von Migranten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die griechische Küstenwache wegen Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Pushbacks. Ein Fall aus dem Jahr 2014, der von NGOs unterstützt wurde, wurde nun im Jänner 2024, zehn Jahre später, entschieden: Griechenland muss eine hohe Entschädigung zahlen. (Adelheid Wölfl, 2.7.2024)