Sich durch teils komplexe Internetseiten zu navigieren ist eine große kognitive Leistung, sagt Pietschnig. Entgegen häufigen Meinungen lassen uns KI und Digitalisierung nicht verdummen.
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Mit der Intelligenz war es lange Zeit ein Erfolgslauf: Generation um Generation erzielten Menschen in Industriestaaten bei IQ-Tests immer bessere Ergebnisse. Doch seit einiger Zeit stagnieren die Leistungen in Tests, mancherorts gehen sie sogar wieder zurück. "Wird die Menschheit wieder dümmer?", lautet deshalb die Überschrift in einigen aktuellen Medienberichten. Als mögliche Ursachen werden häufig die Digitalisierung und die steigenden Bildschirmzeiten genannt. Ganz so einfach ist es jedoch nicht, sagt Jakob Pietschnig, Intelligenzforscher an der Universität Wien. Die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz (KI) ändern nur die Anforderungen an uns und machen unser Wissen spezialisierter. Wir Menschen seien noch lange nicht am Ende unserer Intelligenz angekommen.

Im Interview spricht Pietschnig darüber, was von schnellen Intelligenztests im Internet zu halten ist, wie sinnvoll Intelligenztests bei Bewerbungsverfahren und in Schulen sind und welche Risiken darin schlummern, menschliche Embryos eines Tages anhand ihrer potenziellen Intelligenz auszusortieren.

STANDARD: Im Internet kursieren unzählige Tests, die die eigene Intelligenz messen sollen: Beispielsweise soll man innerhalb von 13 Sekunden inmitten lauter X die Y erkennen. Bei einem anderen soll man drei mathematische Fragen beantworten, um den eigenen IQ zu ermitteln. Auf wieder anderen Seiten soll die Größe von Körperteilen ausschlaggebend für die eigene Intelligenz sein. Was ist von solchen Tests zu halten?

Pietschnig: Solche Tests sind komplett unseriös und besonders absurde Beispiele dafür, was alles als Intelligenztest verkauft wird. Aber auch Tests, die seriöser erscheinen, sind meist keine Intelligenztests, weil sie die Kriterien von wirklichen Intelligenztests nicht erfüllen.

STANDARD: Inwiefern?

Pietschnig: Ein Intelligenztest sagt nur dann etwas aus, wenn es auch eine Referenzpopulation gibt, in die die getestete Person hineinfällt. Wenn Sie beispielsweise einen US-amerikanischen Intelligenztest verwenden, um den IQ einer europäischen Person festzustellen, wird das Ergebnis falsch sein. Intelligenztests sind in vielen Fällen kulturabhängig. Wenn Sie in Österreich jemanden fragen, was die Hauptstadt von Burkina Faso ist, werden die wenigsten die richtige Antwort geben, nämlich Ouagadougou. Eine solche Frage ist daher auch nicht geeignet, die Intelligenz einer Person in Österreich zu erfassen. Wobei ich jetzt dahinstelle, ob Geografiefragen überhaupt geeignet sind, die Intelligenz einer Person zu messen.

STANDARD: In 13 Sekunden kann also niemand seine eigene Intelligenz messen?

Pietschnig: Das kürzeste halbwegs zuverlässige Instrument zur Erfassung von einer Domäne der Intelligenz dauert drei Minuten, und was man da rausbekommt, ist auch nicht besonders genau. Zu sagen, es gehe in 13 Sekunden, ist eine absurde Behauptung.

STANDARD: Und wie steht es um Aussagen zur Intelligenz anhand von Kopf- oder Körpergröße?

Pietschnig: Das ist hanebüchener Unsinn. Es gibt gewisse Merkmale, die in der Allgemeinbevölkerung Zusammenhänge zur Intelligenz zeigen. Aber erstens sind diese Zusammenhänge sehr, sehr klein und zweitens ist eine Aussage für den Einzelfall absolut unmöglich. Das heißt, nur weil wir wissen, dass es einen sehr schwachen Zusammenhang zwischen dem Gehirnvolumen und dem IQ gibt, bedeutet das nicht, dass ein Mensch mit einem größeren Kopf intelligenter ist.

STANDARD: Im Internet und in Medien kursiert seit einiger Zeit eine weitere These: Nachdem die Menschheit im 20. Jahrhundert immer intelligenter wurde, sei dieser Höhenflug nun gestoppt. Zum Teil gehe die Intelligenz sogar wieder zurück. Was ist an dieser These dran?

Pietschnig: Es gibt den sogenannten Flynn-Effekt, der besagt, dass die gemessene Intelligenz in vielen Ländern über weite Teile des 20. Jahrhunderts immer weiter zugenommen hat. Im Zeitraum von hundert Jahren hat sich der gemessene IQ von Menschen um 30 Punkte erhöht. Das ist ein riesiger Effekt. Wenn wir die Testergebnisse von heute beispielsweise mit jenen von vor 100 Jahren vergleichen, stünde die Mehrheit heute an der Schwelle der Hochbegabung. In letzter Zeit ist dieser Trend allerdings inkonsistent geworden.

Jakob Pietschnig leitet den Arbeitsbereich für Differentielle Psychologie und Psychologische Diagnostik am Institut für Psychologie der Entwicklung und Bildung an der Universität Wien und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Intelligenz.
Lina Fessler

STANDARD: Die Menschheit wird zum Teil also wieder dümmer?

Pietschnig: Das ist zu vereinfachend. Was in der Vergangenheit tatsächlich gestiegen ist, ist nicht der allgemeine Faktor der Intelligenz, der es beispielsweise ermöglicht, in unterschiedlichen Disziplinen wie der Raumvorstellung und in der Rechtschreibung gut zu sein, sondern die spezifischen Leistungen. Man kann sich das wie beim Zehnkampf vorstellen: Trainiert man hauptsächlich den Speerwurf und erzielt dabei mehr Punkte, als man bei den anderen Disziplinen verliert, steigt der Gesamtpunktestand. Irgendwann wird das gleiche Training jedoch nicht mehr so viel zusätzliche Leistung bringen, und die Punkte, die man in den anderen Disziplinen verliert, werden mehr sein als dieser Zugewinn. Ähnlich kann man sich das auch als Tendenz zwischen den Generationen vorstellen. Unsere Generation ist heute wesentlich spezialisierter als früher, weil eine solche Spezialisierung von der Umwelt belohnt wird.

STANDARD: Inwiefern?

Pietschnig: Unser Wissen ist viel mehr geworden, man muss viel mehr investieren, um in einem Bereich ein Experte zu werden, als dies noch vor 50 oder mehr Jahren der Fall war. Deswegen ergibt es auch viel mehr Sinn, sich zu spezialisieren. Auch die Digitalisierung nimmt uns einige Dinge ab, die wir nicht mehr so intensiv beherrschen müssen, wie dies früher der Fall war. Gleichzeitig bedeutet das, dass es immer wichtiger wird, dass die Fähigkeiten einer Person genau zu der Aufgabe passen, die diese beispielsweise im Job erledigen soll.

STANDARD: Viele Unternehmen setzen Intelligenztests ein, um die Fähigkeiten ihrer Bewerberinnen und Bewerber zu bestimmen. Wie sinnvoll ist das?

Pietschnig: Wenn das nach aktuellen Standards durchgeführt wird, bringt das nicht nur den Unternehmen etwas, sondern auch den Bewerbern, die dadurch einen passenden Job bekommen. Wenn eine Person einen Job bekommt, den sie zwar will, für den sie aber nicht geeignet ist, wird sie damit nicht glücklich werden, weil sie vielleicht ständig Frust und Überforderung erlebt. Leider werden in der Praxis auch viele halbgare Persönlichkeitstests eingesetzt, die wenig aussagen.

STANDARD: Wie sieht es mit Intelligenztests an Schulen aus?

Pietschnig: Für die Früherkennung von Schwächen und Stärken sind solche Tests sehr gut geeignet. Es geht dabei nicht darum, Menschen einzuteilen in Gut oder Schlecht, sondern ihnen dabei zu helfen, besser im Leben voranzukommen. Die Kindheit ist die einzige Zeit im Leben, in der man mit der Intelligenz noch irgendetwas Nennenswertes machen kann. Bei schlussfolgerndem Denken steht man mit 20 Jahren am Zenit, ab dann geht es für alle nach unten. Wenn ein Kind eine Lese- und Rechtschreibschwäche hat, ist es für die Förderung viel besser, das schon zu wissen, wenn das Kind sechs ist, und nicht erst, wenn es zwölf ist. Umgekehrt können damit auch Begabungen besser gefördert werden.

STANDARD: IQ-Tests stehen immer wieder in der Kritik, wichtige Fähigkeiten nicht zu erfassen oder über- oder missinterpretiert zu werden. Liegt darin nicht eine Gefahr?

Pietschnig: Das Problem ist, dass Intelligenztests für viele Menschen mit Wertigkeit zusammenhängen. Es gibt die implizite Annahme, dass intelligentere Menschen besser sind als andere. Ich lehne diese Sichtweise ab. Intelligenztests sind objektive Methoden, um kognitive Fähigkeiten zu erfassen. Und die Fähigkeiten, die sie erfassen sollen, sei es Raumvorstellung oder schlussfolgerndes Denken, können sie auch sehr gut erfassen. Solche Tests erheben nicht den Anspruch, die Gesamtheit einer Person zu beschreiben. Wenn man sich das erwartet, hat man eine falsche Erwartung.

STANDARD: Über hochbegabte Menschen heißt es oft, sie seien sozial weniger gut bewandert. Ist da empirisch etwas dran?

Pietschnig: Dieses Vorurteil entspringt einem nachvollziehbaren Gerechtigkeitsempfinden. Wir empfinden es als unfair, wenn jemand sehr intelligent und noch dazu sozial erfolgreich ist. Studien haben jedoch gezeigt, dass besonders intelligente Menschen im Schnitt nicht nur erfolgreicher im Beruf sind und mehr verdienen, sondern auch sozial erfolgreicher und gesünder sind.

STANDARD: Können wir als Gesellschaft in Zukunft überhaupt noch intelligenter werden?

Pietschnig: Wir stehen sicher noch nicht am Ende. Allerdings wird es vielleicht eher eine Seitwärts- als eine Aufwärtsbewegung geben. Die Künstliche Intelligenz wird verändern, welche Fähigkeiten wir in Zukunft gut beherrschen sollten, und in diesen Fähigkeiten werden wir dann auch besser und besser werden.

STANDARD: Manche sehen KI und die Digitalisierung auch als Gefahr für unsere Intelligenz, wenn diese uns immer mehr Denkleistungen abnehmen. Was halten Sie davon?

Pietschnig: Die Digitalisierung und die KI lassen uns nicht verdummen, sondern verändern die Anforderungen an uns. Wir müssen wissen, wie wir Fragen stellen müssen, um mit einer KI kommunizieren zu können und ein sinnvolles Ergebnis zu bekommen. Wir müssen bewerten können, ob die Information von einer KI plausibel ist oder nicht. Es ist heute für viele selbstverständlich, sich durch komplexe Internetseiten zu navigieren, sodass uns überhaupt nicht bewusst ist, was für eine kognitive Leistung das ist. Eine ähnliche Entwicklung werden wir vielleicht auch bei der KI erleben.

STANDARD: Künftig ließen sich Embryos bei der künstlichen Befruchtung möglicherweise anhand ihres Erbguts nach ihrer potenziellen Intelligenz aussortieren. Wie vielversprechend oder gefährlich sind solche Technologien?

Pietschnig: Es gruselt mich, wenn ich so etwas höre. Einerseits kann man mithilfe genetischer Merkmale bestimmte Erbkrankheiten abschätzen, was sehr sinnvoll sein kann. Andererseits lässt sich durch solche genetischen Merkmale auch voraussagen, in welchem Bereich sich die Intelligenz aller Wahrscheinlichkeit nach bewegen wird. Wenn man anfängt, Embryos nach diesen Kriterien zu sortieren, wäre das ein Missbrauch der Technologie. Dass man Menschen, die potenziell intelligenter sind, mehr Wert zuschreibt als anderen, ist eine rote Linie, die wir nicht überschreiten sollten. Zudem muss man sagen, dass die Vorhersagekraft von genetischen Merkmalen für die Intelligenz eines Menschen in der Welt, in der wir heute leben, sehr beschränkt ist.

STANDARD: Inwiefern?

Pietschnig: Die Umweltbedingungen reduzieren den Einfluss der Genetik auf die Intelligenz sehr stark. Unter Umweltbedingungen fällt, ob sich meine Eltern leisten können, mich in die Schule zu schicken, ob ich Nachhilfestunden bekomme oder ob meine Eltern die richtigen Leute kennen. Nur in einer idealen Welt, in der alle die gleichen Umweltbedingungen haben, könnten wir die Intelligenz anhand genetischer Merkmale vielleicht perfekt vorhersagen.

STANDARD: Im Film Ohne Limit spielt der Schauspieler Bradley Cooper einen erfolglosen Schriftsteller, der mithilfe einer Droge zum Genie wird. Ist ein solches Medikament zur Intelligenzsteigerung eines Tages realistisch?

Pietschnig: Die Analogie dazu ist vielleicht das Microdosing, mit dem Menschen etwa im Silicon Valley ihre Leistungsfähigkeit steigern wollen. Aufmerksamkeit lässt sich kurzfristig verbessern. Dass wir allein mit einer Pille intelligent werden, halte ich jedoch für eine Wunschvorstellung. (Jakob Pallinger, 4.7.2024)