Seahenge ist eine archäologische Stätte, die ihre Entdeckung unguten Wetterbedingungen verdankt. Im Frühjahr 1998 tobten heftige Winterstürme entlang der Küste der ostenglischen Grafschaft Norfolk. Als sich die Wogen einigermaßen geglättet hatten, stieß John Lorimer aus dem nahen Holme-next-the-Sea beim Krabbenfischen in der Bucht The Wash auf eine kreisförmige Struktur aus freigespülten Holzstümpfen. Es sollte noch bis zum September dauern, ehe Fachleute von der Norfolk Landscape Archaeology mit ersten Untersuchungen und Ausgrabungen begannen.

Der Fundort erhielt den offiziellen Namen Holme I, kleben blieb der deutlich eingängigere Spitzname "Seahenge", obwohl die Namensvetternschaft mit Stonehenge eigentlich auf falschen Grundlagen basiert. Als Henges werden Anlagen aus Gräben, Erdwällen und häufig auch Steinen bezeichnet. Streng genommen ist Holme I daher ein Timber Circle – und ein einzigartiger noch dazu. Denn üblicherweise bleiben von den Holzkonstruktionen nach mehreren Jahrtausenden nur die Pfostenlöcher übrig.

Seahenge in Norfolk
Seahenge, offiziell eigentlich Holme I, kurz nach Freilegung im Jahr 1999. Die Anlage bestand aus 55 im Kreis aufgestellten Eichenstämmen und einem verkehrt herum platzierten Eichenwurzelstock.
Foto: Mark Brennand

55 Stämme und ein riesiger Wurzelstock

Dass man in diesem Fall das Holz selbst untersuchen kann, ist einer schützenden Torfbedeckung zu verdanken, die es vor Fäulnis, wechselnden Feuchtigkeitsbedingungen und Schäden durch Bohrmuscheln bewahrt hat. Ohne diese Hülle waren die Artefakte ab 1998 aber der Zerstörungskraft des Meeres ausgesetzt. Die Wissenschafter entschlossen sich daher, sie zu bergen (was durchaus umstritten war), zu konservieren und genauer zu untersuchen.

Die bisherigen Ergebnisse liefern eine einigermaßen anschauliche Vorstellung von der ursprünglichen Anlage: 55 eng gesetzte Eichenpfählen bildeten einen Kreis mit einem Durchmesser von 6,7 Meter. In der Mitte thronte der große Wurzelstock einer Eiche, den man mit dem Stamm nach unten in der Erde platziert hatte. Als die Struktur errichtet wurde, breiteten sich an dieser Stelle ringsum Salzwiesen aus, abseits des Meeres und vor diesem durch Sanddünen geschützt.

Erstaunlich genau datiert

Anfang 2001 entdeckten Fachleute etwa 100 Meter weiter östlich eine weitere ovale Ringanlage, Holme II, in deren Mitte allerdings zwei liegende Holzbalken gefunden wurden. Beide Stätten standen keineswegs auf stabilem Boden, Klimaveränderungen ließen den Landstrich allmählich vermooren, und die landeinwärts wandernden Dünen begruben das Ganze schließlich unter sich – eine Entwicklung, die den Forschenden das wunderbare Geschenk einer beispiellos präzisen Datierung bescherte.

Anhand von dendrochronologischen Analysen der Jahresringe fand man heraus, dass bei Holme I die Stämme des äußeren Ringes im Frühling des Jahres 2049 vor Christus gefällt wurden. Die verkehrte Eiche im Zentrum wurde auf 2050 v. Chr. datiert. Die Strukturen von Holme II sind älter und entstanden ab etwa 2400 v. Chr. Rund um diese Zeit wurden auch die großen Felsblöcke von Stonehenge 250 Kilometer südöstlich von hier aufgerichtet.

Holme I und Holme II
Grafische Darstellung von Holme I (links) und Holme II (rechts).
Illustr.: Brennand & Taylor (2003), Robertson et al. (2016)

Über den ursprünglichen Zweck von Seahenge konnte bisher nur spekuliert werden. Einige Fachleute sahen in der Anlage ein Monument, das zum Gedenken an den Tod einer wichtigen Person errichtet wurde. Andere vermuteten, dass hier sogenannte Himmelsbestattungen stattfanden. Dabei wurden die Toten im Inneren des Kreises abgelegt und dadurch den aasfressenden Vögeln preisgegeben.

Rückkehr zu wärmeren Zeiten

Aber vielleicht hatte die Konstruktion auch etwas mit schleichenden Umweltveränderungen zu tun, die sich bereits vor der Errichtung von Seahenge abzeichneten. Das zumindest ergab die Kombination von archäologischen und astronomischen Untersuchungen mit biologischen Daten und mythologischen Analysen: Ein Team um David Nance von der University of Aberdeen hat die Hypothese aufgestellt, dass Holme I und II unmittelbar mit der kalten, unwirtlichen Klimaperiode zu tun hatte, gegen die man mit diesem rituellen Bauwerk ankämpfen wollte. Die Kreisanlage sollte gleichsam den Sommer verlängern und für die Rückkehr von wärmeren Zeiten sorgen.

"Wir wissen, dass die Periode, in der die Bäume von Seahenge vor 4000 Jahren aufgestellt wurden, von einer Abkühlungsperiode geprägt war", sagte Nance. "Die Temperaturen waren niedrig, die Winter streng und der Frühling kam sehr spät. Das setzte die damaligen Küstenbewohner unter Druck." Die Untersuchung und Datierung habe gezeigt, dass die Bäume im Frühjahr gefällt wurden und in bestimmter Weise zum Sonnenaufgang während der Sommersonnenwende hin ausgerichtet waren. Eine Verbindung zum Klima dürfte also vorhanden gewesen sein, so die Forschenden.

Alte Legenden

Die im Fachmagazin GeoJournal vorgestellte These speist sich aus der regionalen Folklore, die möglicherweise sehr weit in die Zeit zurückreicht. Der Volksglauben weiß vom Kuckuck zu berichten, der als Symbol der Fruchtbarkeit stets zur Sommersonnenwende seinen Gesang einstellt und den Sommer in die Anderswelt zurückträgt.

Für Nance und sein Team könnte der umgedrehten Eichenstumpf von Homes I einen hohlen Baum darstellen, eines von zwei legendären möglichen Winterquartieren, die dazu dienten, den Kuckuck gleichsam an das Hier und Jetzt zu binden. Im tradierten Mythos kann der Kuckuck eingefangen und der Sommer dadurch zumindest für eine Weile verlängert werden.

Holme II
So sah Holme II im Jahr 2003 aus. Mittlerweile ist nicht mehr viel davon übrig.
Foto: Brian E. Clark

Holme II dagegen verweist mit seinen beiden zentralen Baumstämmen in der Mitte laut Nance auf die Legenden von den "heiligen Königen", die sich noch im eisenzeitlichen Irland und Nordbritannien erzählt wurden. Die Könige wurden demnach dem Morgenstern beziehungsweise Abendstern geopfert, wenn ein Unglück über die Gemeinschaft hereinbrach – in diesem Fall eben anhaltende Wetterunbillen.

Dieses Opferritual, das sich in den Traditionen der späteren Kelten fortsetzte, sollte die Harmonie wiederherzustellen. "Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Monumente zusammen, aber mit unterschiedlichen Zugängen, dem Zweck dienten, die existenzielle Bedrohung durch die damalige klimatische Kaltphase zu beenden", sagte Nance.

Den Elementen preisgegeben

Vielleicht könnten weitere Untersuchungen der Anlagen diese Hypothese untermauern, doch für die Archäologinnen und Archäologen wird in der Bucht bald nicht mehr viel zum Erforschen übrigbleiben: Während die Baumstämme von Holme I 1999 geborgen und durch Replikate ganz in der Nähe des Fundortes ersetzt wurden, blieb Holme II nach oberflächlichen Untersuchungen an Ort und Stelle.

Das Meer setzte den über 4000 Jahre alten Strukturen in den letzten Jahren stark zu, Stürme holen sich nach und nach die Stämme. Pläne, die verbleibenden Reste von Holme II zu bergen, um sie zu konservieren, werden nach den schlechten Erfahrungen bei Holme I nicht weiter verfolgt: Die Einheimischen protestierten 1999 heftig und sahen sich um Tourismuseinnahmen geprellt, und moderne Druiden betrachteten die Entfernung der Holzstämme als Sakrileg. (Thomas Bergmayr, 2.7.2024)