Ein kleiner Hafen mit schmuckem Leuchtturm und einem steinernen Löwen, der hinaus auf den Bodensee blickt: Lindau ist beinahe ein zu beschauliches Pflaster, um große Probleme zu wälzen. Doch seit den frühen 1950er-Jahren hat sich die bayerische Altstadtinsel unweit der österreichischen Grenze als fixer wissenschaftlicher Treffpunkt etabliert. Einmal im Jahr kommen dort Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträger aus aller Welt für eine Woche zusammen, um mit ausgewählten Nachwuchsforschenden fachliche Fragen und auch die großen Themen unserer Zeit zu diskutieren.

Neben der Nobelpreiswoche in Stockholm jeden Dezember ist es das größte Klassentreffen von Nobelpreisträgern. Spaziert man also diese Woche die Lindauer Seepromenade entlang, kommt man fast nicht umhin, dem einen Preisträger oder der anderen Laureatin zu begegnen. 35 Nobelpreisträger und Nobelpreisträgerinnen sind heuer in Lindau vertreten, und mehr als 630 Nachwuchsforschende aus über 90 Ländern sind nach Bayern gereist, um bei der 73. Lindauer Nobelpreisträgertagung mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

Anne L'Huillier (in der Mitte) beim Austausch mit jungen Forscherinnen. Die Physikerin stellte bei der Tagung ihre Arbeit zu Attosekundenlasern vor, die zum Physiknobelpreis 2023 führte.
Christian Flemming/Lindau Nobel;

Wissenschaft als Staffellauf

Einige Nobellaureaten kommen immer wieder zurück nach Lindau. So zum Beispiel der US-amerikanische Astrophysiker Saul Perlmutter. Er erhielt den Nobelpreis 2011 gemeinsam mit Brian Schmidt und Adam Riess für den Nachweis der beschleunigten Ausdehnung des Universums. "Es ist immer wieder eine Freude, mit der nächsten Generation von Wissenschaftern zu sprechen", erzählt Perlmutter dem STANDARD. "Die meisten von uns genießen es, dass die Wissenschaft wie ein Staffellauf funktioniert, wo man immer wieder an die Nächsten weitergibt."

Neben den großen offenen Fragen der Astrophysik treibt Perlmutter aktuell besonders die Frage um, wie die Lehren der Wissenschaft noch breiter dazu genutzt werden können, den großen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen. Eine wissenschaftliche Ausbildung sei nicht nur aufregend, sondern beinhalte auch zahlreiche vermeintliche Nebenaspekte, die der Gesellschaft von großem Nutzen sein könnten. "Ich denke dabei etwa daran, wie man in Wahrscheinlichkeiten denkt oder wie man geschult wird, alle Möglichkeiten zu hinterfragen, sich selbst zu täuschen", sagt Perlmutter. "Ein anderer wichtiger Aspekt ist, nicht an der Lösbarkeit von Problemen zu zweifeln. Generell neigen wir Menschen dazu, viel zu schnell aufzugeben. Doch die Wissenschaft bringt uns immer wieder bei, wie wichtig es ist, hartnäckig zu bleiben und dranzubleiben, auch bei vielen Fehlschlägen."

Der US-amerikanische Astrophysiker Saul Perlmutter freut sich auf den Austausch mit jungen Wissenschafterinnen und Wissenschaftern.
Torben Nuding

Jenseits der Echokammern

Das eigentliche Erfolgsrezept der Wissenschaft besteht für Perlmutter aber darin, dass einen die Forschung dazu bringe, immer wieder mit Menschen zusammenzuarbeiten, die ganz anderer Meinung sind als man selbst. "Das ist sehr wichtig, nur so kommen wir voran", sagt Perlmutter. Umso bedenklicher stimme ihn daher, dass es in der Bevölkerung die Tendenz gebe, sich in gleichgesinnte Echokammern zurückzuziehen. "Ich denke, dass die Wissenschaft etwas für unsere zerrissene Welt von heute zu bieten hat, in der die Menschen nicht wissen, was sie glauben sollen, wenn sie Dinge im Internet lesen. Oder wenn sie nicht wissen, warum sie mit jemandem in einem Raum sein sollten, mit dem sie nicht einer Meinung sind." Genau über diese Fragen will Perlmutter diese Woche in Lindau mit der jungen Generation von Wissenschaftern und Wissenschafterinnen sprechen, "denn sie sind diejenigen, die diese Gedanken auch weitertragen können".

An inspirierenden Vorbildern für die jungen Forschenden mangelt es in Lindau nicht, wie einmal mehr auch die kanadische Physikerin Donna Strickland unter Beweis stellte. Sie sprach bei der Eröffnung der diesjährigen Tagung und thematisierte, wie oft Frauen bei der Vergabe wissenschaftlicher Lorbeeren die längste Zeit übergangen worden seien. Strickland erhielt 2018 für ihre bahnbrechenden Arbeiten in der Laserphysik als überhaupt erst dritte Frau einen Physiknobelpreis. "Es sprach zwar niemand aus, aber ich spürte deutlich, dass ich die einzige lebende Frau mit einem Physiknobelpreis war. Diese Auszeichnung bringt eine große Verantwortung mit sich. Jetzt bin ich sehr glücklich, inzwischen eine von drei lebenden Frauen zu sein, die den Physiknobelpreis erhalten haben."

Der österreichische Nobelpreisträger Anton Zeilinger gab jungen Forschenden den Rat: "Macht das, was euch Freude macht."
Christian Flemming/Lindau Nobel;

Demokratie unter Druck

Auch Wissenschaftsminister Martin Polaschek nahm Anfang der Woche an der Nobelpreisträgertagung teil – das Wissenschaftsministerium fungiert heuer erneut als Kooperationspartner der Tagung. Auch für ihn stellt das jährliche hochkarätige Zusammentreffen "eine außergewöhnliche Gelegenheit" für junge Forschende dar, ihre Ideen mit herausragenden Wissenschaftern zu diskutieren. "Wir leben in einer Zeit, in der die Freiheit der Wissenschaft vor Herausforderungen steht und unsere liberalen globalen Standards sowie das Vertrauen in die Wissenschaft und Demokratie zunehmend unter Druck geraten", sagte Polaschek in Lindau.

"Das Engagement und die Begeisterung der Jungforscherinnen und Jungforscher bei den Nobelpreisträgertagungen ist jedes Jahr aufs Neue wieder eine inspirierende Erfahrung. Wer weiß, vielleicht wird eine oder einer der jungen Forschenden einmal selbst als Nobelpreisträgerin oder Nobelpreisträger zu dieser Tagung nach Lindau zurückkehren", sagte Polaschek. Durch die Förderung des Wissenschaftsministeriums erhalten jedes Jahr zehn österreichische Nachwuchsforschende, die von der Akademie der Wissenschaften nominiert werden, die Möglichkeit, an der Lindauer Tagung teilzunehmen.

Zukunft der Quantentechnologien

Vertreten ist Österreich bei der Lindauer Nobelpreisträgertagung auch durch den österreichischen Physiknobelpreisträger Anton Zeilinger. Sein Forschungsfokus stand auch im Zentrum einer vom Wissenschaftsministerium organisierten Diskussionsrunde zu den Fundamenten der Quantenphysik und der Zukunft von Quantentechnologien. Die Frage, welche Plattform sich im Rennen um künftige Quantentechnologien durchsetzen wird, ist naturgemäß auch eine, die Nachwuchsforschende in Lindau umtreibt.

Mit Photonen, Ionenfallen und Supraleitern gibt es ja mehrere physikalische Systeme, mit denen sich beispielsweise ein Quantencomputer ermöglichen lässt – doch welcher Ansatz ist der aussichtsreichste, um darauf eine Forschungskarriere aufzubauen? "Meiner Meinung nach ist es viel zu früh, um darüber eine Aussage zu treffen. Wir müssen all diese verschiedenen Zugänge verfolgen, denn wir wissen noch nicht, wo die Entwicklung letztlich hinführen wird. Es könnte auch sein, dass keine dieser Technologien der Gewinner sein wird", lautet Zeilingers Einschätzung. Er schloss mit einer herzlichen Empfehlung an die Nachwuchsforschenden: "Mein Rat ist: Macht das, was euch Freude macht." (David Rennert, Tanja Traxler, 3.7.2024)