Mechanismus von Antikythera
Der vor mehr als 2000 Jahren hergestellte Mechanismus von Antikythera ist das wohl spannendste Instrument der Antike. Neue Analysen widerlegen bisherige Annahmen zum äußeren Ring des analogen Computers.
IMAGO/Schöning

Der über 2000 Jahre alte Mechanismus von Antikythera ist weit komplexer als alle bekannten Geräte, die im Jahrtausend danach entwickelt wurden. Der astronomische Rechner aus Bronze von der Größe eines Schuhkartons wurde zwar schon im Jahr 1900 von Schwammtauchern aus einem Schiffswrack vor der griechischen Insel Antikythera geborgen. Da jedoch nur Bruchstücke des antiken Apparats die Zeiten überdauert hatten und diese zudem extrem stark korrodiert waren, herrschte lange Zeit Unklarheit über die genaue Funktion des Geräts. Ausgeschlossen werden kann freilich, dass es sich bei der komplexen Zahnradkonstruktion um eine Zeitmaschine handelt, wie im Vorjahr der Film Indiana Jones und das Rad des Schicksals (2023) nahelegte.

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Ein Durchbruch gelang einem Team um den britischen Astrophysiker Mike Edmunds (Universität Cardiff) im Jahr 2006. Für ihr internationales Großprojekt durften die Forschenden die im Archäologischen Nationalmuseum in Athen ausgestellte Apparatur mit einem Computertomografen durchleuchten und konnten ihre Oberfläche mit hochauflösenden bildgebenden Verfahren untersuchen. Auf diese Weise gelang es ihnen, doppelt so viele Inschriften wie bisher zu entziffern. Zudem konnten sie die Funktion der mehr als 30 Zahnräder und damit die Anwendung des astronomischen Kalenders genauer bestimmten als je zuvor. Ihre Analysen waren damals Titelgeschichte im Fachblatt Nature.

"Spannendstes Artefakt der Antike"

Dennoch blieben dabei noch zahlreiche Fragen offen. Unbestritten ist jedenfalls, dass es sich bei dem Gerät um das vermutlich spannendste Artefakt handelt, das wir aus der antiken Welt haben, wie die Wissenschaftsjournalistin Jo Marchant formulierte, Autorin des Buches Die Entschlüsselung des Himmels: Der erste Computer – ein 2000 Jahre altes Rätsel wird gelöst, das im englischen Original 2008 erschien. Bis heute versuchen Fachleute, diesem ersten analogen "Computer" der Geschichte, der vermutlich in einem Holzkasten untergebracht war, die letzten Geheimnisse zu entlocken oder Korrekturen an den bisherigen Deutungen zu machen.

Einer dieser vom Antikythera-Mechanismus Besessenen ist Chris Budiselic, der auf Youtube sehenswerte Videos zum Mechanismus und seiner Herstellung postete, die er aufwendig nachstellte:

The Antikythera Mechanism Episode 1 - Greeks, Clocks and Rockets - #DialOfDestiny
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Doch das ist noch nicht alles. Der Youtuber und Privatgelehrte stellte mit Kollegen vor knapp vier Jahren infrage, dass der große Kalenderring, ein Schlüsselelement des Geräts, die 365 Tage des ägyptischen Sonnenkalenders zeigten, wie das Nature-Paper 2006 noch behauptet hatte. Dieser Schluss hatte sich damals aufgedrängt, weil die äußere Ringskala die Monatsnamen des ägyptischen Kalenders benützt, der das Jahr in zwölf Monaten zu je 30 Tagen und fünf Zusatztagen einteilt. Doch Budiselics neue Analysen der Fragmente ließen darauf schließen, dass die Skala nicht 365 Abschnitte aufweist, sondern nur 354.

Antikythera
Das Fragment mit den Lochstanzungen. Komplettiert man die Scheibe, ergeben sich nach neuen Berechnungen nur 354 extrem präzise angebrachte Löcher.
Budiselic et al., The Horological Journal 2020.

Das wiederum entspricht zwölf synodischen Monaten mit jeweils 29 1/2 Tagen. Damit würde es sich also nicht um einen ägyptischen Sonnen-, sondern vielmehr um einen griechischen Mondkalender handeln.

Bestätigung der 354 Tage

Die Analysen von Budiselic und deren Kernaussage wurden nun von einem Astrophysiker-Duo der Uni Glasgow in der Juli-Ausgabe des Horological Journal bestätigt, wo auch schon Budiselics Paper erschienen war. Für den neuen Artikel setzten Graham Woan und Joseph Bayley avancierte statistische Methoden ein, um die Positionierung der der Forschung bekannten Löcher des Mechanismus und die Passform der Fragmente zu analysieren. Die Techniken der Astrophysiker – einschließlich der Bayesschen Statistik und der von Ligo verwendeten Methoden zum Nachweis von Gravitationswellen – lieferten ziemlich eindeutige Beweise dafür, dass der Kalenderring entweder 354 oder 355 Löcher enthält. Und diese Zahl stimmt – siehe oben – mit dem griechischen Mondkalender überein.

Graham Woan zeigte in einer Presseaussendung seiner Uni größten Respekt vor der handwerklichen Leistung der damaligen "Computerhersteller": "Die Präzision der Positionierung der Löcher hätte hochpräzise Messtechniken und eine unglaublich ruhige Hand erfordert, um sie zu stanzen." Und bei der Schilderung, wie er zu seinen Ergebnissen kam, wird Woan fast schon poetisch: "Es liegt eine schöne Symmetrie darin, dass wir die Techniken, die wir heute zur Erforschung des Universums verwenden, dafür adaptieren konnten, um mehr über einen Mechanismus zu erfahren, der den Menschen vor zwei Jahrtausenden half, den Himmel zu beobachten." (Klaus Taschwer, 3.7.2024)

Anm. der Red.: Eine missverständliche Formulierung zu den Scans wurde korrigiert und die erklärende Aufnahme wurde eingefügt.