Am Montag übernahm mit Ungarn ein Land für sechs Monate die Präsidentschaft der Europäischen Union, dessen Regierungschef Viktor Orbán als Wladimir Putins nützlichster Störenfried innerhalb der Organisation der 27 Staaten betrachtet wird. Nur fünf Monate vorher hat das EU-Parlament mit 345 gegen 104 Stimmen bei 29 Enthaltungen "die vorsätzlichen, anhaltenden und systematischen Bemühungen" seiner Regierung verurteilt, die Grundwerte der EU aufzuweichen. Zugleich riefen die Abgeordneten auf, die Organe, Werte und Fonds während der ungarischen Präsidentschaft zu schützen.

Ungarns Regierungschef Viktor Orbán von der Seite aufgenommen
Ungarn hat den Vorsitz im Europäischen Rat übernommen: Regierungschef Viktor Orbán.
Foto: AFP/JOHN THYS

Dass laut dem EU-Barometer 77 Prozent der Befragten in Ungarn die EU-Mitgliedschaft für einen Vorteil halten, ist verständlich, zumal das Land seit dem Eintritt im Jahr 2004 rund 83 Milliarden an Förderungsgeldern von den westeuropäischen Steuerzahlern erhalten hat. Diese Überweisungen machten jährlich 3,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus! Trotzdem greift die Orbán-Regierung durch die von ihr direkt und indirekt kontrollierten Massenmedien seit fast 14 Jahren die Institutionen der EU und namentlich die Vorsitzenden der EU-Kommission scharf an. "Brüssel" ist deshalb zur größten Gefahr für die Magyaren hochstilisiert worden, weil EU-Abgeordnete und -Kommissare durch ihre Kritik und Resolutionen, von Anfang an, wenn auch vergeblich, versucht hatten, den Aufbau des korrupten und illiberalen Orbán-Regimes zu verhindern.

Die Schimpfkanonaden aus Budapest haben einen neuen Höhepunkt erreicht, nachdem der Europäische Gerichtshof im Juni Ungarn wegen Verletzung der Asylregelungen zu einer Strafe von 200 Millionen Euro und zu einem täglichen Zwangsgeld von einer Million Euro (bis zur Erfüllung eines Gerichtsurteils von Dezember 2020) verurteilt hatte. Daraufhin beschimpfte Orbán persönlich die höchsten EU-Richter als Puppen des 94-jährigen US-amerikanisch-ungarischen Philanthropen und Finanziers George Soros, der laut ihm eine Million Migranten nach Europa bringen möchte …

Auf Tuchfühlung

Seit dem russischen Aggressionskrieg gegen die Ukraine hat die ungarische Regierung siebenmal mit ihrem Veto 6,6 Milliarden Euro an Rüstungshilfe für die Ukraine blockiert. Bei der Verzögerungstaktik geht es nicht nur um die Freipressung von Fördergeldern für Ungarn, welche durch die EU-Kommission wegen der Verletzung der rechtsstaatlichen Bestimmungen eingefroren wurden. Achtmal seit dem Ukrainekrieg hat Orbán seinen Außenminister zur Tuchfühlung nach Moskau geschickt, und er traf (als einziger EU-Regierungschef seit dem Krieg) Präsident Putin im September 2023 in Peking. Jetzt prahlt er: "Ungarn zog die Notbremse im Pro-Krieg-Zug (der EU) und stieg aus."

Und diese Putin-freundliche, Ukraine-Hilfe blockierende Regierung des korruptesten Mitgliedsstaates bestimmt jetzt den Fahrplan und die Tagesordnung der Europäischen Union bis zum Ende des Jahres. Es wäre ein durchaus dankbarer Stoff für ein absurdes Theaterstück Eugène Ionescos oder Sławomir Mrożeks: zeitweilige Übernahme einer ganzen Staatsanwaltschaft durch einen (noch nicht rechtskräftig verurteilten) Angeklagten. All das passiert aber in der politischen Realität im dritten Jahr des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. (Paul Lendvai, 1.7.2024)