Noch steht die Sitzverteilung im neuen französischen Parlament nicht fest, aber die Rechts-außen-Partei Rassemblement National (RN) steht näher denn je an der Schwelle zur Macht. Präsident Emmanuel Macron, der die Neuwahl nach seiner Niederlage bei der EU-Wahl ausgerufen hatte, könnte in die Geschichte eingehen als derjenige, der den Rechten den Weg in die Regierung geebnet hat. Hier die wichtigsten Fragen – und Antwortversuche.

Frage: Ist Le Pens Erfolg bereits jetzt als historisch zu bewerten?

Antwort: Der Rassemblement National von Marine Le Pen hat am Sonntag im ersten Durchgang der französischen Parlamentswahl 33 Prozent der Stimmen erzielt – Rekord für die Rechtsnationalen. In der Nationalversammlung werden die Lepenisten wegen des Mehrheitswahlrechts fast die Hälfte aller Sitze belegen, vielleicht auch mehr. Vor fünf Jahren wäre das noch schlicht unvorstellbar gewesen. Dass der Aufschrei im republikanischen" Gegenlager am Montag nicht größer war, hat einzig damit zu tun, dass sich die Franzosen und Französinnen langsam an die Idee einer Präsidentin Le Pen oder einer Regierung Jordan Bardella – so heißt ihr Parteichef – gewöhnen. Die Umfrageinstitute rechnen schon länger mit einem solchen Wahlresultat, das insofern keine Überraschung darstellen würde.

Über die Jahre betrachtet ist der Vormarsch des RN historisch. Nicht nur wahlarithmetisch, sondern auch ideell: Die französische Devise von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wird von Le Pens Losung der "nationalen Priorität" der Franzosen und Französinnen vor Ausländern und Ausländerinnen gleichsam auf den Kopf gestellt. Le Pens Thesen lösen jene der (selbsternannten) Menschenrechtsnation langsam aber sicher ab. Vor allem, wenn sie in einer Woche an die Regierungsmacht kommen sollte.

An Marine Le Pen wird kein Weg vorbeiführen.
REUTERS/Yves Herman

Frage: Was sind die Gründe für Le Pens Vormarsch?

Antwort: Frankreich geht es wirtschaftlich nicht gut. Präsident Emmanuel Macron hat zwar die Arbeitslosigkeit – vor allem auch die Jugendarbeitslosigkeit – gesenkt. Seine gesamte Wirtschaftspolitik kommt seinem Land aber sehr teuer zu stehen. Frankreich ist hoch verschuldet und kann sich die früher einmalige Sozialversicherung nicht mehr leisten. Insbesondere die untere Mittelklasse verarmt an den Rändern der Städte und auf dem Land – zu sehen etwa vor einigen Jahren beim Aufstand der "Gelbwesten". Le Pen hat es mit einem betont sozialen Kurs geschafft, nicht nur das Kleingewerbe für sich zu gewinnen, sondern auch die Arbeiterschaft, die früher für die Kommunistische Partei gestimmt hatte. Zugleich bedient sie das Feindbild von den "faulen Arbeitslosen und Ausländern" und verspricht, die Immigration zu kontrollieren. Zugleich tritt sie für Ordnung und Sicherheit ein, was ihr inmitten der grassierenden Kriminalität viele Stimmen einbringt.

Frage: Ist Le Pens RN rechtsextrem?

Antwort: Der Gründer des Front National (FN), Jean-Marie Le Pen (96), war noch ein deklarierter Rechtsextremist, der aus seinem Rassismus und Antisemitismus keinen Hehl machte. Seine Tochter Marine hat ihren Vater nicht nur aus der Partei geworfen, sondern mit dem RN eine Soft-Version ausgebaut. Sie gibt sich heute republikanisch, schließt Rassisten aus der Partei aus und verteidigt Israel und die französischen Juden, wenn sie in den Vorstädten Opfer antisemitischer Attacken werden. Ob sie das aus Opportunismus oder aus Überzeugung tut, ist fraglich, aber letztlich sekundär: Tatsache ist, dass sie ihrem Ziel, 2027 in den Élysée-Palast einzuziehen, ihr gesamtes politisches Programm unterordnet. Tatsache ist aber auch, dass das RN eine ausländerfeindliche Partei bleibt. Le Pen wird in Frankreich aus historischen Gründen zur "extrême droite" gezählt. Ihr Programm ist aber in Wahrheit nicht mehr rechtsextrem, sondern rechtspopulistisch oder rechtsnational.

Video: So könnte es nach der Frankreich-Wahl weitergehen
AFP

Frage: Wie geht es diese Woche in Frankreich weiter?

Antwort: Nach dem Erfolg der Lepenisten im ersten Wahlgang formiert sich in Frankreich eine "republikanische Front" gegen die RN-Kandidaten. Das bedeutet konkret, dass sich einzelne schlecht platzierte "republikanische" Kandidaten in ihrem Wahlkreis zugunsten eines "republikanischen" Gegenspielers zurückziehen, wenn dieser dadurch den RN-Kandidaten besiegen könnte. Die linken, grünen oder Mitte-Parteien erlassen feierliche Appelle an die Wähler, nicht für das RN, sondern eine "republikanische" Partei einzulegen. So auch Macrons Premierminister Gabriel Attal.

Der sozialdemokratische Europawahl-Listenführer Raphaël Glucksmann erklärte: "Wir haben eine Woche, um eine Katastrophe zu verhindern." Nötig sei ein strikter "cordon sanitaire", eine Brandmauer gegen den RN. Aber nicht alle halten sich daran: Konservative Republikaner sind zum Teil abgesprungen und haben sich unter Führung ihres Parteichefs Éric Ciotti den Lepenisten angeschlossen. Politologen glauben, dass die Brandmauer in Frankreich kaum mehr funktioniert.

Die Lage ist zudem in jedem Wahlkreis anders. Das Mehrheitswahlrecht bringt es mit sich, dass in jedem Wahlkreis unabhängig abgestimmt wird. Im zweiten Wahlgang sind noch die – meist zwei, drei oder vier – Bewerber dabei, die im ersten Wahlgang 12,5 Prozent oder mehr gemacht haben.

Frage: Was, wenn Le Pen die absolute Mehrheit erringt?

Antwort: Die große Frage ist, ob der RN im zweiten Wahlgang in einer Woche in der 577-köpfigen Nationalversammlung die absolute Mehrheit von 289 Sitzen erringen wird. Die Umfrageinstitute sagen ihr zwischen 230 und 280 Sitze voraus. Das würde ihr also nicht genügen. Doch diese Vorhersagen sind nicht sehr zuverlässig. Wenn das RN die absolute Mehrheit erreicht, kommt es unweigerlich zu einer "cohabitation" zwischen einem Präsidenten und einem Premier unterschiedlicher Parteiherkunft. Präsident Macron müsste Parteichef Bardella mit der Regierungsbildung betrauen.

Kommt Bardella an die Macht, will er als Erstes die Energiepreise und die Mehrwertsteuer senken und Lohnerhöhungen subventionieren. Später sollen Maßnahmen gegen die Immigration und Macrons Rentenreform folgen. Dagegen gäbe es Straßenproteste linker Organisationen. Im Bildungssektor haben Beamte passiven Widerstand angekündigt.

Jordan Bardella, möglicher künftiger Premierminister.
AP/Louise Delmotte

Frage: Und was passiert, wenn sie nicht gewinnt?

Antwort: Wenn sich der RN zum Beispiel mit 250 Sitzen begnügen muss, verpasst er die Regierungsmehrheit von 289 Sitzen. Gut möglich, dass Macron trotzdem Bardella zum Premier ernennen muss – denn der RN wird die Nationalversammlung auf jeden Fall dominieren. Mit 250 oder 280 Sitzen würde es dem RN aber schwerfallen, gerade die umstrittensten Antimigrationsgesetze durchzubringen. Bardella hatte deshalb vor dem ersten Wahlgang erklärt, er würde das Premieramt nicht annehmen, wenn er im Parlament keine Mehrheit habe. Am Wahlabend schloss er aber die Möglichkeit nicht mehr aus – möglicherweise weil er hinter den Kulissen mit weiteren Konservativen Absprachen eingegangen ist, die ihm zu einer Mehrheit in der Nationalversammlung verhelfen sollen.

Macron könnte allerdings auch versuchen, eine Mitte-Koalition von gemäßigten Republikanern, Macron und Sozialdemokraten zu bilden. Allerdings prüfte auch die linke "Volksfront", die mit 28 Prozent der Stimmen ein gutes Resultat erzielt hat, ob sie nicht umgekehrt linke Macronisten in ihr Boot holen könnte, um eine "Gegenregierung" zu Le Pen auf die Beine zu stellen. Sehr konkret sind diese Pläne aber bisher nicht gediehen.

Frage: Wie geht es dann weiter, Président Macron?

Antwort: Emmanuel Macron ist der Verlierer des ersten Parlamentswahlgangs. Seine Partei Renaissance und ihr Mittebündnis haben nur gut 20 Prozent der Stimmen erzielt. Vor allem schrumpft ihre bereits magere Sitzzahl in der Nationalversammlung auf möglicherweise unter 100 Sitze – bei 577 Abgeordneten. In anderen Demokratien müsste der Parteichef oder Staatspräsident den Hut nehmen. In Frankreich, wo der Präsident wegen der Verfassung eine sehr starke Stellung hat, kann sich Macron bis auf weiteres im Élysée-Palast halten. Er hat durch seine Sprecher schon vor einer Woche verlauten lassen, ein Rücktritt komme für ihn nicht infrage.

Wie es scheint, hat er das Ausmaß seiner persönlichen Niederlage bis heute aber nicht erkannt: Als wäre nichts, hat er am Sonntagabend nach Bekanntwerden der Resultate einen feierlichen Appell an alle politischen Kräfte – abgesehen vom RN – erlassen, eine "demokratische und republikanische" Front gegen die Lepenisten zu bilden. Dass er dem RN mit der unüberlegten Ansetzung von Neuwahlen selber der Macht näher bringt, blieb in dem Appell unerwähnt.

Der 46-jährige Staatschef wird versuchen, sich gegenüber einer RN-Regierung als Hüter republikanischer Werte in Szene zu setzen und damit Sympathien zurückzugewinnen. Er kann sich zum Beispiel weigern, ein von der Nationalversammlung erlassenes Gesetz gegen Migranten zu unterschreiben, womit es nicht in Kraft treten kann. Ein institutioneller – und sehr politischer – Konflikt wäre die Folge. Nicht auszuschließen ist, dass er dank seines langjährigen Umgangs mit bereits drei Premierministern weiß, wie er eine RN-Regierung aus politischen Amateuren ins Leere laufen lassen könnte.

Frage: Welche Folgen wird die Wahl für Europa haben?

Antwort: In Brüssel ist, wie die Zeitung Le Parisien schreibt, den Eurokraten am Sonntagabend der "kalte Schweiß" ausgebrochen. Frankreich war noch nie ein einfacher Kunde, und mit einer euroskeptischen RN-Regierung in Paris würde das Gründungsmitglied der EU nicht nur unberechenbar, sondern zu offener Feindschaft gegen Brüssel mutieren. Le Pen will nicht mehr wie früher aus der EU austreten oder die Eurozone verlassen. Hingegen plant sie, die Beitragszahlungen Frankreichs an das EU-Budget von sich zu senken. Das wäre ein Casus Belli. Sorgen macht man sich in Brüssel, aber namentlich auch in Berlin, weil die Staatsschuld Frankreichs heute über 3000 Milliarden Euro beträgt, mehr als in jedem anderen EU-Land, wenn man in absoluten Zahlen rechnet. Noch vor den Wahlen hat Brüssel ein Defizitverfahren gegen Paris eröffnet. Le Pen und ihr Premier Bardella würden sich in Sachen Budgetdisziplin noch weniger an die EU-Vorgaben halten als Macron; statt drei Prozent würden sie in diesem Jahr eher das Doppelte einfahren. Zwischen Paris und Brüssel sind knallharte Konflikte absehbar. (Stefan Brändle aus Paris, 1.7.2024)