Ismail Kadare ist gestorben
Schriftsteller Ismail Kadare 2015 bei einem öffentlichen Auftritt in Jerusalem.
AFP/GALI TIBBON

Als in den frühen 1990er-Jahren der blutige Zerfall Jugoslawiens begann, blieb ein Staat mehr oder weniger am Rand, der eigentlich in denselben Zusammenhang gehört: Albanien trat nur sehr allmählich aus der Isolation, in die es der kommunistische Herrscher Enver Hodscha (1908–1985) geführt hatte. Das "Land der Skipetaren", wie es für die heißt, die Geografie bei Karl May gelernt haben, blieb lange ein blinder Fleck. Es gab allerdings eine Möglichkeit, sich in aller Differenziertheit ein Bild von der komplizierten Landesgeschichte und von den nicht minder komplexen ideologischen Positionierungen Albaniens zu machen: In den Büchern von Ismail Kadare ist alles detailreich und mit mythischer Resonanz erschlossen.

Vor 1990 musste man allerdings durchaus findig sein, um auf seine großen Romane zu stoßen, denn der Buchmarkt entdeckte ihn so richtig erst nach der Wende – dann galt er allerdings bald als Nobelpreiskandidat. Die Dämmerung der Steppengötter (1978, deutsch 2016) gibt ein präzises Bild des literarischen Felds, in dem Kadare sich bewegte. Am Maxim-Gorki-Institut in Moskau trifft ein junger Autor auf eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen, sie leben und lieben und atmen die Luft der Literatur und der Utopien des Sowjetkommunismus, sie sind aber auch zutiefst verstrickt in eine rigide Kontrolle und Instrumentalisierung. Kadare verarbeitete in Die Dämmerung der Steppengötter auch den Fall Pasternak, des Autors von Doktor Schiwago, einen der berühmtesten Fälle der poststalinistischen Kulturpolitik.

Zeuge der Geschichte

Kadare wurde 1936 in der südalbanischen Stadt Gjirokastra geboren, aus der auch Enver Hodscha stammte. Albanien wurde damals noch von einem König namens Zogu der Erste regiert. In seiner Kindheit und Jugend wurde Kadare Zeuge deutscher und italienischer Besatzer und wechselnder Partisanengruppen, die zum Teil gegeneinander, aber auch für die Freiheit kämpften. Die kommunistische Fraktion unter Hodscha setzte sich durch, schlug sich auf die Seite Jugoslawiens, dann Stalins, und wurde schließlich gegen die Sowjetunion Bundesgenosse der Volksrepublik China unter Mao. Kadare fand in diesen großen Führern sein Lebensthema: die Gewalt, aber auch Undurchdringlichkeit totaler Herrschaft. In Geboren aus Stein (1971, deutsch erstmals 1988 bei Residenz) erzählte er die subjektive Seite dieses Ausgeliefertseins als apokalyptische Dorfchronik.

1990 verließ Kadare nach Drohungen der albanischen Geheimpolizei das Land und fand Asyl in Frankreich. Bald darauf sah er sich Vorwürfen ausgesetzt, er hätte de facto in einer nützlichen Symbiose mit dem Hodscha-Regime gearbeitet, von dem er zugleich kritisch erzählte. Wer sich heute dem riesigen Werk (darunter auch historisch-allegorische Romane wie der nur auf Englisch vorliegende Three Elegies for Kosovo oder Die Pyramide) annähern möchte, wird einen Schatz an fragmentierter Nationalliteratur vorfinden, wie auch große Parabeln über Literatur und Macht. Am Montag ist Ismail Kadare im Alter von 88 Jahren in seiner Heimat Albanien gestorben. (Bert Rebhandl, 1.7.2024)