Emmanuel Macron: "Sie dürfen mir vertrauen, ich werde bis Mai 2027 in jedem Moment als Beschützer unserer Republik und unserer Werte handeln."
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Emmanuel Macron wusste schon länger, dass sich seine Landsleute von ihm abwenden. Am 24. Juni hatte er sich in einem öffentlichen "Brief an die Franzosen" geäußert: "Sie dürfen mir vertrauen, ich werde bis Mai 2027 in jedem Moment als Beschützer unserer Republik und unserer Werte handeln", schrieb der Staatspräsident. Er versicherte seinen Landsleuten, "Pluralismus und Ihre Wahl zu respektieren".

Nach der schweren Wahlniederlage der Regierung von Premier Gabriel Attal, die Macrons Politik trug, liest sich das wie ein trotziges Aufstampfen vorab. Hätte er es nicht selbst erwähnt, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass sich der machtbewusste "Jupiterpräsident" 2024 frühzeitig zurückziehen könnte.

Nun dokumentiert sein Brief die tiefe Verunsicherung und Umbruchstimmung, die in Frankreichs Politik steckt, vor allem im Zentrum. Die extreme Rechte von Marine Le Pen und die radikale Linke rund um Jean-Luc Mélenchon feiern ihre Siege. Macron muss sich Vorwürfe gefallen lassen, warum er die Nationalversammlung nach der EU-Wahl überstürzt aufgelöst hat, das Risiko einer weiteren Polarisierung im Land einging, sie sogar befeuerte.

Beruhigung, mehr Hinhören der Regierung bei den besorgten Bürgerinnen und Bürger wären angesagt gewesen. Dafür ist es jetzt zu spät. Medien spielen im diskursverliebten Land alle Varianten durch, wie es nach der Stichwahl in fünf Tagen weitergehen könnte, ohne Tabus. Dazu gehört nun sogar das Szenario einer Demission des Staatspräsidenten: Senatspräsident Gérard Larcher müsste übernehmen.

Die Verfassung in einer der ältesten Demokratien der Welt gibt viel her: erneute Neuwahlen; eine Staatsreform; oder eine technische Regierung; oder gar "plein pouvoir" – Allmacht – für Macron. Auch eine direkte Machtübernahme durch die Nationalversammlung wäre möglich, so als gäbe es gerade eine Revolution wie 1789.

Kommt die "cohabitation"?

Zu all dem wird es kaum kommen. Die entscheidende Frage wird sein, ob Le Pens extreme Rechte im zweiten Gang eine absolute Mehrheit der Sitze im Parlament gewinnen könnte. Denkbar. Dann wäre Le Pens "Küken", der 28-jährige Parteichef Jordan Bardella, als neuer Premierminister kaum zu verhindern. Macron, der überzeugte Proeuropäer, müsste mit einem EU-Skeptiker in "cohabitation" regieren. Bardellas ausländerfeindliche, radikale Politik ließe Unruhen erwarten.

Das andere Szenario: Keine Partei oder Plattform wie die "Volksfront" (der neben den Linken von Mélenchon und den Kommunisten auch Sozialisten und Grüne angehören) bekommt eine Mehrheit. Dann wird es komplizierter. Die Konservativen könnten Le Pens Partei an die Macht verhelfen. Wegen des Mehrheitswahlrechts in 577 Wahlkreisen ist das schwer vorauszusagen.

Macron wird seinen bisherigen Status als mächtiger Gestalter der Politik jedenfalls verlieren, innenpolitisch wie bei seinem großen Anliegen, eine EU zu schaffen, die auf globaler Ebene mehr "europäische Souveränität" entwickelt.

Ohne eine Regierung in Paris, die ihn voll unterstützt, hat er nur halbe Kraft. Das ist für die übrigen EU-Partner, voran Deutschland, tragisch. Eine gemeinsame Politik zu Russland, zum Ukrainekrieg, für den Fall, dass Donald Trump US-Präsident wird, ist mit einem EU-skeptischen Frankreich kaum zu machen. Wenn EU-Gegner im Matignon einziehen, wird es beinahe unmöglich sein. (Thomas Mayer, 1.7.2024)