Siegtorschütze Harry Kane (re.) borgte sich den Markenzeichen-Jubel von Englands Last-Minute-Retter Jude Bellingham (li) aus.
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Gelsenkirchen, Sonntagabend, 22.50 Uhr. Die Nachrufe auf die Ära Southgate lagen bereit, die vernichtenden Analysen waren geschrieben, einige Fans hatten sich gar schon auf den Heimweg gemacht. Es war ein frustrierender Abend, wie ihn England bei der EM zuvor schon dreimal erlebt hatte, nur mit einem gravierenden Unterschied: Diesmal hatte der Gegner ein Tor mehr geschossen.

Die von Ivan Schranz in der 25. Minute besorgte Führung der Slowakei war kein Zufallsprodukt, in der ersten Halbzeit waren ihre Konter eine permanente Gefahrenquelle. Die englischen Stars dagegen kickten streckenweise, als würden sie durch einen knietiefen Sumpf waten. England habe ausgesehen "wie der FC Turmbau zu Babel", scherzte ein Fan online. Tatsächlich schien es über weite Strecken wieder, als würde jede Absprache, jede menschliche Kommunikation unmöglich werden, sobald man das Trikot der Three Lions trägt.

Immerhin: Nach der Pause gab es gute Momente, wo auch mal ein Rädchen ins andere griff, statt nur unabhängig voneinander Pirouetten zu drehen. Dafür, dass hier nach eigenem Selbstverständnis eine Fußballmacht kickte, zeitigten 45 Minuten Dominanz aber bedenklich wenige Torszenen. Phil Foden jubelte über ein Abseitstor, Harry Kane vergab per Kopf eine Achtzigprozentige, für ihn eher eine Fünfundneunzigprozentige, das war’s.

Ye olde Bellingham

Das war’s? Natürlich nicht. Es gibt da ja noch diesen Jude Bellingham: frische 21 Jahre, Ankerpunkt aller englischen Hoffnungen, dazu ein Selbstbewusstsein, auf das sogar Cristiano Ronaldo neidisch sein muss. Der Mittelfeldmann wandelt im Teamtrikot freigeistig herum und war 94 Minuten lang ein Sinnbild der englischen Bemühungen: Einzelne Aktionen waren unter der Lupe durchaus okay; betrachtete man aber den Kontext mit, waren sie für die Fisch’.

Bis zur fünften Minute der Nachspielzeit. Bis Kyle Walker weit einwarf, bis Marc Guéhi per Kopf verlängerte, bis Bellingham die Zeit stehenbleiben ließ. Es braucht schon ein ganz besonderes Selbstverständnis, um in diesem Moment zum Fallrückzieher anzusetzen, es braucht aber auch eine ganz besondere Geistesgegenwart. Klar hätte es Bellingham mit einem Kopfball versuchen können, hätte so aber kaum Wucht hinter den Ball gebracht. Sowieso wirkt er wie jemand, der nach dem Training Fallrückzieher übt, je nach Laune gern auch mal währenddessen.

Bellinghams Geniestreich kurz vor dem drohenden Aus. Mit dem spektakulären Ausgleich waren die Three Lions wieder im Spiel.
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Bellingham gefällt sich in Eleganz und Style. Spontane Jubel gibt es bei ihm nicht, er hat auch dafür Posen und Abläufe einstudiert. Also Fallrückzieher. Es war nicht der schönste aller Zeiten, aber es war einer der schöneren, und es war definitiv einer der wichtigsten. Tief in der Nachspielzeit war Goalie Martin Dubravka erstmals chancenlos. Es war eine fast schon geskriptet-freche Volte, man kennt das von Bellinghams Arbeitgeber. Du kriegst den Burschen aus Real Madrid heraus, aber du kriegst Real Madrid nicht aus dem Burschen heraus.

Wer sonst?

"Who else?", rief er beim Torjubel mit einer grantigen Selbstverständlichkeit, während sich der Rest der Insel wegen des 1:1 in Euphorie überschlug. Ja wirklich, wer denn auch sonst? In seiner hochbegabten Generation überstrahlt Alleskönner Bellingham die Kollegenschaft um Foden oder Bukayo Saka. Hoffnungsträger ist aber kein Job, den man in England haben will, denn Hoffnungsträger werden im Moment des Scheiterns zu Schuldigen. Man frage nach bei David Beckham. In der Heimat des Fußballs wurde schon über Bellinghams Platz in der Startelf diskutiert, nachdem sich Englands Offensivspiel gegen Dänemark desintegriert hatte.

Kane (li.) und Bellingham hingen längst in den Seilen, ehe sie spät doch noch zuschlugen.
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"Für England zu spielen ist schön, aber bei all dem Müll, der geredet wird, auch belastend", sagte Bellingham, nachdem Harry Kanes Kopfballtor zum 2:1 in der Verlängerung (91.) das Viertelfinale gesichert hatte. Auf Instagram postete er einen Auszug von Theodore Roosevelts Rede "Citizenship in a Republic": Nicht der Kritiker zähle, sondern jener, der mit verschwitztem Gesicht in der Arena Dreck frisst.

Uefa ermittelt gegen Bellingham

Gegen die Schweiz könnte Bellingham zwei Fallrückzieher brauchen. Noch ist unklar, ob er spielen darf: Die Uefa ermittelt gegen Bellingham, der beim Spiel auch eine abfällige Geste machte, bei der er zunächst seine rechte Hand küsste, um danach einen Griff in den Intimbereich anzudeuten. Bellingham verteidigte sich später, er habe einen Insider-Schmäh gegenüber Freunden gemacht, die im Stadion waren. Die Geste habe keinesfalls der slowakischen Ersatzbank gegolten.

Die Uefa teilte mit, die Ethik- und Disziplinarkommission ermittelt, um einen "möglichen Verstoß von Grundregeln des anständigen Benehmens" zu untersuchen. (Martin Schauhuber aus Gelsenkirchen, 1.7.2024)

Fußball-EM – Achtelfinalspiel:

England – Slowakei 2:1 n. V. (1:1,0:1). Gelsenkirchen, SR Meler (TUR).

Tore: 0:1 (25.) Schranz
1:1 (90.+5) Bellingham
2:1 (91.) Kane

England: Pickford – Walker, Stones, Guehi, Trippier (66. Palmer) – Mainoo (84. Eze), Rice – Saka, Bellingham (106. Konsa), Foden (94. Toney) – Kane (106. Gallagher)

Slowakei: Dubravka – Pekarik (109. Tupta), Vavro, Skriniar, Hancko – Kucka (81. Bero), Lobotka, Duda (81. Benes) – Schranz (93. Gyömber), Strelec (61. Bozenik) , Haraslin (61. Suslov)

Gelbe Karten: Guehi, Mainoo, Bellingham bzw. Kucka, Skriniar, Pekarik, Vavro, Gyömber