Der russische Angriffskrieg bedeutet für die Ukraine vor allem eines: den Verlust von Leben. Seit dem Einmarsch Russlands sind laut ukrainischen Angaben 425.000 Soldaten getötet oder verletzt worden; der US-Geheimdienst schätzt die Zahl auf 315.000. Davon abgesehen ist der Krieg auch eine enorme finanzielle Belastung – nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die EU und andere westliche Unterstützerstaaten.

Ursula von der Leyen und Wolodymyr Selenskyj.
Der ukrainische Präsident Selenskyj will russisches Geld für den Wiederaufbau verwenden. Die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen macht jetzt den ersten Schritt.
IMAGO/Presidential Office of Ukr

Laut Berechnungen der Weltbank, der EU-Kommission, der Vereinten Nationen und der ukrainischen Regierung dürften die direkten Schäden in der Ukraine mit Stichtag Ende 2023 mehr als 152 Milliarden Dollar betragen. Die Gesamtkosten für den Wiederaufbau in den nächsten zehn Jahren summieren sich auf 486 Milliarden US-Dollar. Ein Teil dieser Geldmittel soll von privaten Investoren kommen, ein größerer von befreundeten Staaten. Die EU hat die Ukraine bislang mit über 88 Milliarden Euro unterstützt.

Als "wichtigste Ressource für die Erholung der Ukraine" sieht der ukrainische Premierminister Denys Schmyhal aber "die Beschlagnahmung der im Westen eingefrorenen Vermögenswerte Russlands". Genug Geld gäbe es: EU-Staaten haben ein Vermögen im Wert von rund 210 Milliarden Euro der russischen Zentralbank eingefroren. Dazu kommen viele Milliarden an Oligarchenvermögen. Doch könnte das Geld tatsächlich beschlagnahmt und an die Ukraine überstellt werden? Und welche Optionen gäbe es?

1. Verwertung der Zinsen

Als ersten Schritt will die EU Gewinne aus eingefrorenem russischen Kapital für die Ukraine nutzen. Darauf einigten sich die EU-Staaten Anfang Mai. Die Reserven des russischen Staats sollen also nicht direkt verwertet werden, sondern nur deren Zinserträge.

Allein für das Jahr 2023 meldete das Brüsseler Finanzinstitut Euroclear, bei dem ein großer Teil des russischen Zentralbankvermögens liegt, Zinseinnahmen von 4,4 Milliarden Euro. Pro Jahr sollen künftig rund drei Milliarden Euro in die Militärhilfe fließen. Laut dem Vorschlag der Kommission dürfen 90 Prozent der nutzbaren Zinserträge in den EU-Fonds für die Finanzierung militärischer Ausrüstung und Ausbildung fließen. Die übrigen zehn Prozent sollen andere Hilfen für die Ukraine finanzieren. Grund für den Split sind Staaten wie Österreich, die sich nicht direkt an Waffenlieferungen beteiligen wollen.

2. Verwertung der Staatsgelder

Die Ukraine will freilich mehr als bloß die Zinsen, die das russische Zentralbankvermögen abwirft. Vielmehr solle man auch direkt auf das Vermögen zugreifen. Doch die EU-Kommission lehnt einen "Enteignungsbeschluss" bis dato ab. Die Gründe dafür sind sowohl rechtlicher als auch faktischer Natur.

Rechtlich wäre eine Enteignung nur dann wasserdicht, wenn der Internationale Gerichtshof (IGH) Russland zu einer Schadenersatzzahlung verurteilt. Das Problem: Weder die Ukraine noch Russland haben die Zuständigkeit des IGH bedingungslos akzeptiert, erklärt Astrid Reisinger Coracini, Völkerrechtlerin an der Universität Wien. Zwar wurde vorgeschlagen, dass die Ukraine russisches Vermögen auf ihrem Staatsgebiet als völkerrechtliche Gegenmaßnahme beschlagnahmen und für den Wiederaufbau verwenden dürfe. Ob das auch für Staaten gilt, die nicht direkt an der kriegerischen Auseinandersetzung beteiligt sind, ist unter Juristinnen und Juristen allerdings umstritten.

Befürworter argumentieren, dass Russland mit seinem Angriff das internationale Rechtsgefüge als Ganzes störe und damit eine schwere Völkerrechtsverletzung "erga omnes" – also gegen alle Staaten – begangen habe, sagt Reisinger Coracini. Unter dieser Prämisse sollte russisches Vermögen, das bereits eingefroren ist, auch an die Ukraine überstellt werden dürfen.

Die rechtliche Unsicherheit bleibt aber, und die EU hat weitere Bedenken: Greift die Union ohne Urteil auf das russische Vermögen zu, könnten andere Staaten und Anleger ihr Vertrauen in den europäischen Finanzplatz verlieren. Befürchtet wird zudem, dass Russland Gegenmaßnahmen ergreift und europäische Unternehmen enteignet, die Vermögen auf russischem Staatsgebiet besitzen.

3. Verwertung der Oligarchengelder

Rechtlich ebenso heikel wäre die Verwertung des Vermögens staatsnaher russischer Oligarchen. Lukrativ wäre eine derartige Vorgangsweise allemal: Auf Basis der Sanktionen wurden in der Europäischen Union bislang zig Milliarden Euro privater Vermögen vorübergehend eingefroren. Das Argument: Die Oligarchen und deren Familien unterstützen den russischen Angriffskrieg direkt oder indirekt und profitieren davon.

Dieses eingefrorene Vermögen endgültig zu beschlagnahmen und die Oligarchen zu enteignen ist aber rechtlich schwierig. Theoretisch könnte sich die EU auf ihre Kompetenz zur Bekämpfung von grenzüberschreitenden Verbrechen stützen. Stammt das eingefrorene Vermögen aus illegalen Tätigkeiten, könnte es im Zuge einer strafrechtlichen Einziehung verwertet werden. Zuletzt wurde im Zuge einer Gesetzesnovelle der Weg dafür geebnet, dass eine derartige Einziehung auch dann möglich sein soll, wenn Oligarchen die Sanktionen verletzen oder umgehen. Ein entsprechender EU-Straftatbestand wurde kürzlich im Zuge einer Reform eingeführt.

EU ist streng mit sich selbst

Ob in den kommenden Monaten und Jahren davon Gebrauch gemacht wird, bleibt abzuwarten. Die endgültige Entscheidung darüber läge beim Europäischen Gerichtshof (EuGH), der derzeit über Klagen zahlreicher Oligarchen und deren Familien entscheiden muss, die sich gegen Sanktionen wehren.

Für die EU geht es in der Frage der Russlandgelder nicht zuletzt um ihre eigene Glaubwürdigkeit: Der politische Druck, russisches Vermögen an die Ukraine zu überstellen, ist groß. Die Union muss sich dennoch an die Grundsätze halten, die sie sich selbst auferlegt hat. Die Sanktionen müssen mit den EU-Grundrechten vereinbar sein – auch in der Ausnahmesituation eines Kriegs. (Jakob Pflügl, 1.7.2024)