Emmanuel Macron und Marine Le Pen vor zwei Jahren beim Handschlag im Élysée-Palast, nun könnte eine Regierung Macrons mit einem Premier von Le Pens Rassemblement National bevorstehen.
AFP/POOL/LUDOVIC MARIN

Der Schuss ist nach hinten losgegangen. Präsident Emmanuel Macron hat der Rechten Marine Le Pen zu einem neuen Wahlsieg verholfen – statt sie wie beabsichtigt einzudämmen.

Ihr Rassemblement National (RN) ist aus der ersten Runde der vorgezogenen Parlamentswahl in Frankreich als stärkste Kraft hervorgegangen. Die Partei von Marine Le Pen erhielt zusammen mit ihren Verbündeten laut dem am Montag veröffentlichten offiziellen Endergebnis 33 Prozent der Stimmen. Auf Platz zwei landete demnach das Linksbündnis mit 28 Prozent. Das Mitte-Lager von Macron kam bei der Abstimmung am Sonntag auf 20 Prozent. Das teilte das Innenministerium in Paris mit.

Und doch sitzt Le Pen noch nicht an der Regierung in Paris. Im zweiten Wahlgang am 7. Juli sagen die Umfrageinstitute dem RN "nur" 230 bis 280 Sitze voraus. Damit würde sie die absolute Mehrheit von 289 Sitzen knapp verpassen. Ihr Premier-Kandidat Jordan Bardella will die Regierung aber nur übernehmen, wenn er im Parlament die absolute Mehrheit hat.

Zahllose "Dreieckswahlen"

Wer die Stichwahl gewinnt, ist offen. Das Mehrheitswahlrecht erschwert Prognosen, da in jedem der 577 Wahlkreise unabhängig gewählt wird. Zugelassen sind im zweiten Durchgang alle Parteien, die 12,5 Prozent erhalten haben. Das trifft in den meisten Fällen für den RN zu, aber auch für die linke Volksfront und für Macrons Mitteverbund Ensemble. In ganz Frankreich wird das damit zu zahllosen "Dreieckswahlen" zwischen Rechten, Macronisten und Volksfront führen.

Frankreichs amtierender Premierminister Gabriel Attal warnte vor einem Sieg des RN: "Keine einzige Stimme darf an den Rassemblement National gehen. Der Einsatz ist klar: Es gilt zu verhindern, dass der RN eine absolute Mehrheit erhält", sagte der Regierungschef von Macrons Partei Renaissance. Er kündigte den Rückzug von etwa 60 Kandidaten des Regierungslagers in der zweiten Runde an. Dies solle den Sieg rechtspopulistischer Kandidaten verhindern, sagte er Sonntagabend in Paris.

Ähnlich äußerte sich auch Jean-Luc Mélenchon von der Volksfront kurz nach Veröffentlichung der ersten Prognosen. Die Kandidaten seines Bündnisses würden sich in jenen Wahlkreisen zurückziehen, in denen sie nur auf dem dritten Platz liegen. "Unsere Weisung ist klar: Keine Stimme, kein Sitz mehr für den RN", hieß es von Mélenchon am Sonntag.

Jean-Luc Mélenchon (Mitte), auf dem Bild mit Manuel Bompard (links) und Rima Hassan (rechts) von der linken Volksfront,kündigte taktische Rückzüge seiner Kandidaten für die Stichwahl an.
REUTERS/Abdul Saboor

Ausschlaggebend wird sein, wem die Wähler der im ersten Wahlgang ausgeschiedenen konservativen Republikaner die Stimme geben werden: Le Pen oder Macron? Das Politbüro der "Républicains" wird dazu aufrufen, nicht für Le Pen zu stimmen. Der abgesetzte Parteichef Eric Ciotti ist aber ausgeschert: Er paktiert mit Le Pen, und er weiß dabei weite Teile der Parteibasis hinter sich, die wie der RN in erster Linie die Migration bekämpfen will.

Ebenso leidenschaftlich verläuft die Debatte bei den Sozialdemokraten, der Parti Socialiste. Ihr Wortführer Raphaël Glucksmann forderte am Sonntagabend, dass "keine Stimme" seines Lagers auf den RN entfallen dürfe. Ex-Premier Manuel Valls und die feministische Autorin Élisabeth Badinter rufen allerdings dazu auf, "weder RN noch LFI" zu wählen, das heißt weder die Rechts- noch die Linkspopulisten von La France insoumise (LFI).

Brandmauer gefallen?

Die Kerndebatte "nie Le Pen" oder "keine Extreme" wird diese kurze Woche zwischen den Wahlgängen dominieren. Es ist letztlich die Frage, ob es noch so etwas wie eine Brandmauer der republikanischen Kräfte gegen die Lepenisten gibt. Der Politologe Brice Teinturier zweifelte am Sonntag daran.

Wenn der RN doch noch die Regierungsgeschäfte übernehmen kann, erhielte Frankreich zum vierten Mal in der Geschichte der Fünften Republik eine "Cohabitation" aus einem Präsidenten und einem Premier unterschiedlicher politischer Couleur. Diese neueste politische Zwangsehe wäre aber bedeutend konfliktgeladener als unter den Präsidenten Charles de Gaulle, François Mitterrand und Jacques Chirac. Denn Le Pen will die mühsam erfochtenen Macron-Reformen wie das Pensionsalter oder die Arbeitslosenversicherung rückgängig machen; auch stellte sie sich im Ukrainekrieg Wladimir Putin nicht wirklich in den Weg.

Video: Frankreichs Rechtspopulisten gewinnen erste Wahlrunde
AFP

Zwischen Macron und Bardellas Mentorin Le Pen brennt bereits die Lunte. Die Rechtsradikale behauptete vergangene Woche, die in der Verfassung erwähnte Oberleitung der Armee durch den Präsidenten sei nur ein "Ehrenjob". Dabei handelt es sich keineswegs nur um eine akademische Debatte in Zeiten der "Cohabitation": Dahinter steht die Frage, ob Macron oder Bardella den Kurs Frankreichs im Ukrainekrieg festlegen. Die Lepenisten stehen dem Kreml bedeutend näher.

Geschwächt, aber selbstsicher

Macron, der seit der katastrophalen Wahlvorziehung sehr geschwächt ist, ohne dass sein Selbstwertgefühl angekratzt scheint, wird das politische Feld den Lepenisten nicht kampflos überlassen. Beschlossene Gesetze kann er zu verhindern suchen, indem er ihnen seine Schlussunterschrift verweigert. Dabei handelt es sich allerdings nicht um ein eigentliches Vetorecht – sondern eher einen politischen Knalleffekt, der die "Cohabitation" sprengen würde. Und darauf setzt Macron womöglich.

Le Pen wird aber ihrerseits alles daran setzen, den geschwächten, aber kompetenzreichen Präsidenten kleinzukriegen. Sie hat die Dynamik der Wahlen und des Neuanfangs auf ihrer Seite. Vor allem will sie 2027 selber Staatschefin werden – und das wird sie nur, wenn ihre Regierung unter Bardella bei der Programmumsetzung reüssiert.

Aus diesem Grund dürfte Le Pen versucht sein, bei ihrem Hauptthema, der Einwanderung, die Schraube umso mehr anzuziehen. Und auf Sündenbockpolitik hinsichtlich Migranten versteht sie sich. (Stefan Brändle aus Paris, red, 30.6.2024)