Das Bild zeigt eine Konzeptzeichnung zu
So (oder so ähnlich) soll die futuristische Wüstenstadt "The Line" einmal aussehen. Der Preis für diese Megastruktur scheint in jedem Fall zu hoch.
APA/AFP/NEOM/-

The Line ist im Rahmen des saudi-arabischen Siedlungsprojekts Neom ein Paradebeispiel für architektonischen Ehrgeiz, der die Grenze zum Wahnsinn wohl längst überschritten hat: In einer unwirtlichen Region an der Küste des Roten Meeres sollen sich zwei Hightech-Wolkenkratzer 170 Kilometer in die Länge ziehen, und mit neuem Verkehrskonzept ohne Straßen und Autos auskommen. Was von Saudi-Arabien gerne als vorbildlich nachhaltiges Leben in einer Stadt der Zukunft verkauft wird, klammert allerdings hochproblematische Aspekte aus - vor allem die Entstehung einer Megastruktur, die sehr blutig sein dürfte.

Bauland nicht unbesiedelt

Dass Saudi-Arabien für seine "Vision 2030" nicht zimperlich vorgeht, ist schon länger bekannt. Ein aktueller Bericht erhebt nun aber erneut schwere Vorwürfe gegen das Prestigeprojekt des Kronprinzen Mohammed bin Salman. Die von Arte durchgeführten Recherchen decken auf, dass lokale Widerstände gegen The Line brutal niedergeschlagen werden und weitreichende Folgen für protestierende Einheimische haben.

Trotz offizieller Behauptungen des Kronprinzen gegenüber Bloomberg, das Gebiet sei unbesiedelt, leben dort tatsächlich seit Jahrhunderten Beduinenstämme der Howeitat. Dass dieser Stammesverband durch die Bauarbeiten stark bedroht ist, konnte Arte über einen Vergleich von Satellitenbildern nachweisen. Anhand dieser Bilder lässt sich erkennen, dass drei Dörfer mit dem Namen Gayal, Sharma und Al-Khuraybah bereits abgerissen worden sind, um Platz für das futuristische Siedlungsprojekt zu schaffen.

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Das Bauland, in dem "The Line" gerade entsteht und sich wie ein Strich durch die Landschaft ziehen soll, ist nicht unbesiedelt.
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Symbolisch für das harte Vorgehen ist insbesondere der Fall des Abdul Rahim Al-Huwaiti, der 2020 getötet wurde, als er sich gegen die Enteignung seines Grundstücks wehrte. Offizielle Berichte behaupten zwar, Al-Huwaiti hätte zuerst geschossen, doch diese Darstellung wird weitgehend angezweifelt.

Bekannt und auch durch den Bericht "The Dark Side of Neom" dokumentiert ist viel eher, dass jegliche Gegenwehr von den saudischen Behörden als "Terrorismus" gebrandmarkt wird, der gravierende Menschenrechtsverletzungen zur Folge hat. Betroffene werden nicht nur enteignet, sondern können auch inhaftiert, gefoltert und vermutlich getötet werden.

Europäische Firmen beteiligt

Internationale Reaktionen auf die Situation zu den Protesten gegen Neom wurden durch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte verstärkt, das seine Besorgnis über die bevorstehenden Exekutionen und die Art der Gerichtsverfahren zum Ausdruck brachte. Die UN forderte von Saudi-Arabien Aufklärung über die Anklagen und die Bedingungen der Inhaftierung, erhielt jedoch nur ausweichende und fadenscheinige Antworten, die an der Situation nichts geändert haben dürften. Über die zum Tode verurteilten Personen, darunter auch der Bruder des getöteten Abdul Rahim Al-Huwaiti, gibt es keine aktuellen Informationen.

An dem Vorhaben sind mehrere europäische Bau- und Technologiefirmen wie ThyssenKrupp, Bauer, FCC, Veolia und Trevi beteiligt. Öffentlich treten diese Firmen als Verfechter von Menschenrechten auf. Zu den Vorwürfen in Zusammenhang mit "The Line" haben sie bisher geschwiegen.

Bau gerät ins Stottern

Beteiligte Unternehmen dürften möglicherweise eher aus anderen Gründen stutzig werden: Die Finanzierung von The Line zeigt nämlich erste Risse. Obwohl Saudi-Arabien bedeutende Einnahmen aus einem zweiten Aktienverkauf des staatlichen Ölkonzerns Saudi Aramco generieren konnte, reicht dies scheinbar nicht aus, um die enormen Kosten des Baus zu decken. Trotz eines Budgets von 1,5 Billionen US-Dollar für Neom könnte Saudi-Arabien weit mehr Ressourcen benötigen, um dieses umstrittene Vorhaben zu verwirklichen.

Das dürfte auch der Grund sein, weshalb die Saudis zuvor schon angekündigt hatten, die ursprünglichen Pläne massiv zurückzufahren. Bis 2030 sollen "nur" noch weniger als 300.000 Menschen auf einer fertig gebauten Strecke von 2,4 Kilometern leben. Das macht begangene Verbrechen aber nicht rückgängig und The Line auch nur zu einem von vielen fragwürdigen Projekten im Rahmen von Neom. (Benjamin Brandtner, 30.6.2024)