Deutschlands Fanzonen sind, wenn sie nicht gerade wegen eines Gewitters geräumt werden müssen, bummvoll.
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Nach verzwickten Jahren hat das DFB-Team eines erreicht: Die Vibes stimmen. Die Vibes, das sind all diese Gefühligkeiten, die sich jeder Messbarkeit verweigern. Das rosa-lila Auswärtstrikot kam bei der EM erst einmal zum Einsatz und ist trotzdem längst Kult, Major Tom lässt die Fans vor und nach Siegen völlig abheben, und die Stadionstimmung kann mittlerweile fast mit der bei einem Großklub mithalten.

Innerhalb der Mannschaft scheint auch alles bussibussi zu sein. Thomas Müller hat eine Dauerkarte für die Ersatzbank, Niclas Füllkrug bleibt trotz seiner Tore der ewige Joker, und trotzdem macht keiner einen Mucks. Was im STANDARD-Forum zuletzt über Ralf Rangnick zu lesen war, könnte man analog auch über Julian Nagelsmann sagen: Statt 84 Millionen Bundestrainern gibt es nur noch einen.

All das hilft, will man Europameister werden, und all das half beim an schwierigen Momenten nicht armen 2:0-Achtelfinalsieg gegen Dänemark. Schon nach drei Minuten wurde Deutschlands vermeintlicher Führungstreffer von Referee Michael Oliver mit einer äußerst unbritisch-pingeligen Foulentscheidung aberkannt, Joshua Kimmich hatte Kopfballtorschütze Nico Schlotterbeck den Weg freigeblockt. "Ich weiß nicht, ob man das abpfeifen muss", monierte Kimmich später.

Blitz und Donner

Nach 35 Minuten erzwang ein heftiges Sommergewitter samt Hagel eine knapp 25-minütige Unterbrechung, direkt nach der Halbzeitpause servierte Joachim Andersen den nächsten Donnerstoß: Der Abwehrmann jubelte in der 48. Minute über das 1:0. Es dauerte 101 Sekunden, bis der der VAR sich auf eine, um es mit Österreichs Bundespräsidenten zu sagen, arschknappe Abseitsstellung festlegte. So lange wähnte sich der Gastgeber im Rückstand, so lange schien das Sommermärchen im Dortmunder Regen davonzuschwimmen.

Für einen Abend musste Deutschland den VAR mögen.
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"Solche Situationen sind nicht einfach", sagte Antonio Rüdiger nach dem Match. "Diese Mannschaft zeigt aber guten Charakter, und wir haben gezeigt, dass wir gegen alle Widrigkeiten zurückkommen können." Das sah so aus, dass David Raum, exakt 15 Sekunden nachdem Manuel Neuer das Spiel wieder in Bewegung gebracht hatte, von links einen Ball zur Mitte flankte und dabei Andersens Hand traf. Die Hand war abgestreckt, wie sie das bei Menschen im Vollsprint immer ist. Es war einer dieser Hands-Elfer, die jeden Menschen, der selbst einmal Sport gemacht hat, den Kopf schütteln lassen – den man aber laut Regelwerk geben kann. "Das sind zwei lächerliche Entscheidungen, die entscheidend waren", schimpfte Dänemarks Teamchef Kasper Hjulmand.

Nagelsmann reagiert

Kai Havertz verwandelte (53.), etwas später erhöhte Jamal Musiala nach herrlichem Schlotterbeck-Steilpass auf 2:0 (68.). War das Match in der ersten Halbzeit noch wild und für beide Seiten chancenreich gewesen, hatte die DFB-Elf nach der Pause und insbesondere nach Nagelsmanns erstem Doppeltausch mehr Kontrolle. Dass Deutschland nun im Viertelfinale steht, ist auch einer Kernkompetenz guter Fußballtrainer geschuldet: Adjustierungen.

Sieht man das Fußballfeld als fünfspurige Straße vom eigenen zum gegnerischen Tor, wäre der linke Halbraum die zweite Spur von links. Und genau diesen linken Halbraum bespielte Dänemark bis zur Pause nach Belieben, Spielmacher Christian Eriksen war praktisch nur dort unterwegs und leitete so zahlreiche gute Aktionen ein. Nagelsmann reagierte – wenn auch noch nicht in der Gewitterpause, sondern erst zur Halbzeit – und ließ Robert Andrich und später Emre Can diesen Bereich abriegeln.

So verliefen die letzten 20 Minuten nach den zuvor erlebten emotionalen Turbulenzen für Deutschland vergleichsweise entspannt, Florian Wirtz und Havertz hätten gut und gerne auf 3:0 erhöhen können. Und dann: Major Tom. Wie undenkbar diese völlig losgelöst Völlig losgelöst singenden Fanmassen noch vor einem Jahr schienen, scheint schon fast vergessen. Da krampfte sich Hansi Flick nach der gescheiterten WM durch die EM-Vorbereitung, Vorfreude auf die Heim-EM erlebte Deutschland nicht einmal in Spurenelementen.

Julian Nagelsmann tat Deutschlands Nationalteam gut.
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Dann kam Nagelsmann. Der 36-Jährige experimentierte, traf mutige Entscheidungen, lehrte seine Spielprinzipien, fand neue Leistungsträger und reanimierte eine scheintote Mannschaft. Am Ende holte er sogar Toni Kroos aus der Teampension. Und so stehen nur mehr drei Siege zwischen einer bei der EM weiter unbesiegten Truppe und dem Heim-Titel. "Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!", war in den Schlussminuten bereits zu hören. "Das Stadion hat gebebt, das kenne ich von der Nationalmannschaft nicht unbedingt. Wir haben etwas im Land ausgelöst, spielen mit Euphorie", freute sich Schlotterbeck.

Handbremse bleibt angezogen

Deutschlands einstiges Wir-sind-eine-Turniermannschaft-wir-packen-das-Selbstbewusstsein tritt aber nur in diesen besonders euphorischen Momenten zutage. Wer zwei Weltmeisterschaften in Serie in der Gruppenphase beendet, dem bleibt zumindest auf Zeit ein gewisser Defätismus. Da finden sich bei der Rückfahrt vom Stadion schon Fans in Deutschlandtrikot, die sich wegen Österreich als potenziellem Gegner Sorgen machen – zuvor aber noch vor dem angenommenen Viertelfinalgegner Spanien, der zuvor noch die Hürde Georgien überwinden muss.

"Es war ein Spiel voller Widerstände. Wir haben gut gegen die angekämpft", sagte Nagelsmann. Auch nach dem Abpfiff gab es noch zwei Misstöne: Zuerst vergriff sich "Player of the Match" Antonio Rüdiger im Interview dramatisch im Vokabular und sagte, man könne kritisieren, dass man die Dänen "nicht früher getötet" habe. Zudem mussten Einsatzkräfte einen Vermummten, der noch während der Partie auf die Verstrebungen unter dem Stadiondach geklettert war, in Sicherheit bringen. (Martin Schauhuber aus Dortmund, 30.6.2024)