Tijan Sila
Autor Tijan Sila ist Bachmannpreis-Träger 2024.
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In Deutschland sparen öffentlich-rechtliche Sender wieder einmal bei der Literatur. Wie vorigen Montag publik wurde, trifft es beim SWR jetzt Dennis Scheck. Nicht mit seiner Hauptsendung Druckfrisch, aber das Format Lesenswert wird zwecks Sparens eingestellt. Wiewohl der Sender angab, dass freiwerdende Mittel in digitale Angebote für jüngeres Publikum fließen sollen, etwa das frisch in der Mediathek laufende Longreads mit Helene Hegemann, ist die Szene natürlich aufgeregt.

Mit diesem Seitenblick verwies Klaus Kastberger in seiner ersten Abschlussrede als neuer Juryvorsitzender der Tage der deutschsprachigen Literatur darauf, dass in Klagenfurt ein "Ausnahmezustand" herrsche. "Fast wie aus dem Nichts heraus scheint in Klagenfurt wieder einmal allen klar, wozu es Literatur braucht. Es ist wunderbar, mitanzusehen, wie diese Faszination für Literatur jedes Jahr wie eine Krankheit ausbricht."

Haupt- als Nebensache

So gesehen sind die nach drei Lesetagen vergebenen Preise fast eine Nebensache. Natürlich waren sie noch vor der punktgenauen Sonntagsrede aber doch die Hauptsache. Mit "Euphorie und Unglaube" konnte Tijan Sila den Hauptpreis (25.000 Euro) für Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde entgegennehmen. Er wurde 1981 in Sarajevo geboren, seine Familie floh einst nach Deutschland. Davon, wie sich der Bosnienkrieg in eine Familie einschreibt, handelte auch sein Text – einer von mehreren, die sich heuer in Ich-Perspektive mit den Eltern befasste. In diesem Fall mit zwei Menschen, die trotz Doktortiteln aus der Heimat in Deutschland Jahre nach der Ankunft noch prekär leben, tote Tanten sehen, Elektroaltgeräte akkumulieren. Vom "klugen Aufbau" bis zur "Erzählökonomie" hat das die Jury unisono beeindruckt.

Denis Pfabe aus dem ORF-Garten auf dem Weg ins Studio, um sich den Deutschlandfunk-Preis abzuholen.
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Dasselbe gelang dem 1986 in Bonn geborenen und ebendort lebenden Denis Pfabe, der in Die Möglichkeit einer Ordnung mit in den Baumarkt und in die erschütterte Psyche eines Mannes nahm. Ziellos streicht dieser zur Ablenkung vom verlorenen ungeborenen Kind umher – und findet tatsächlich so etwas wie Heilung. Daran so beeindruckend (und dieses Jahr selten) war, wie die Geschichte keinen Diskursen und keiner Zeitgenossenschaft in Technologiefragen zuzwinkerte und auch auf keine historischen Krisen referierte, sondern mit psychologischer Kohärenz in ein sehr limitiertes Setting eintauchte und es ausreizte. Mit zehn Punkten Respektabstand (13:23) gewann er den zweiten Preis (Deutschlandfunk, 12.500 Euro). Damit durfte der Schweizer Juror Philipp Tingler gleich zweimal zur Laudatio ausrücken, der die beiden so verschiedenen, wiewohl jeweils "tragikomischen" Texte nominiert hatte.

Transparent, aber verwirrend

Dass die Entscheidungsfindung in Klagenfurt nicht hinter verschlossenen Türen erfolgte, hatte Kastberger schon im Vorfeld des heurigen Bewerbs lobend hervorgestrichen – ein bisschen verwirrend war das alles trotz Transparenz aber auch! Vier Abstimmungen und ein paar Jurynachfragen waren nötig, um den dritten und vierten Platz an die Frau zu bringen, die Musik der Begleitband im ORF-Garten lieferte dazu unfreiwillig das passende komödiantische Flair. Man schaffte es schließlich doch: mit dem Kelag-Preis (10.000 Euro) für Tamara Štajner und dem 3sat-Preis (7500 Euro) für Johanna Sebauer. Beide darf man dem Team Österreich zurechnen, beide hatten erst am Samstag gelesen.

Tamara Štajner ging im Stechen um den Kelag-Preis als Gewinnerin hervor.
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Auch bei Štajner, 1987 in Novo mesto in Slowenien geboren, seit 18 Jahren lebt sie in Wien, wirkte der Krieg im ehemaligen Jugoslawien nach. Wie Silas Text ist auch ihrer autobiografisch grundiert, zum Ende ihrer Lesung hin begann sie sogar zu weinen. Jurorin Brigitte Schwens-Harrant hatte die Aufarbeitung einer psychologisch brutalen Mutter-Tochter-Beziehung („Wer soll sowas heiraten?“) nominiert. "Gewalt und Schmerz werden von Generation zu Generation weitergereicht, der Körper wird zum Symptom, an dem Geschichten von Zersplitterung ablesbar werden", fasste sie Luft nach unten zusammen.

Gurkerl für die Saure-Gurken-Zeit

Von Sebauer – die Burgenländerin hat ihren Lebensmittelpunkt inzwischen in Hamburg – stammt indes der lustigste Text der heurigen 14er-Auswahl. Nicht nur sahen die Jury und das Saalpublikum dies so, auch der online vergebene BKS-Publikumspreis (7000 Euro) ging an die 36-Jährige. Humorvolle Texte hätten es in Klagenfurt nicht leicht, denn man meine zu oft, dass es im Lachen immer nur um Marginalien gehen könne, stellte sich Laudator Kastberger über den an sich nicht überraschenden Erfolg überrascht.

Das Adjektiv "lustig" allein beschreibt Das Gurkerl allerdings nur unzureichend. Es österreichert in dem Text – natürlich kalkuliert – gehörig. Mit vielen dialektalen Schimpfwörtern von "fetzengschissen" bis "scheißdrecksgschissen" lässt die Autorin ausgehend von einem Spritzer essighaltigen Gurkerlwassers im Auge eines meinungsstarken Journalisten die Frage Essiggurkerl-ja-oder-nein zum Debattenthema eines Sommerlochs anwachsen. Gurkerl für die Saure-Gurken-Zeit, ha! Die durch die Nichtigkeit des Anstoßes vermeintlich leichte und damit umso formidablere Satire führt alle Medienmechanismen, Social-Media-Empörungswellen und Talkshow-Gesprächsunmöglichkeiten vor, wie sie gegenwärtig zu beobachten sind.

Johanna Sebauer kam bei der Jury (3sat-Preis) und beim Publikum (BKS-Publikumspreis) gleichermaßen an.
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"Hahnenkampf" und "Parodie"

Was sonst noch? Andere aktuelle Themen wie Klima oder KI waren Fehlanzeige. Neben an sich schon literarisch gut etablierten Traumata fand man dafür auch Frauen, die Bademodenkataloge oder Mutterrollenbilder erweitern. Kandidatin Olivia Wenzel, die vom Rederecht der Kandidaten als einzige Gebrauch gemacht und der Jury die Intention ihres solchen Textes erklärt hatte, war im Nachhinein deshalb "relativ schockiert" über sich. Kastberger resümierte mit Blick zurück heuer eine "ungeheuer breite Palette ästhetischer Positionen". Neuzugang Laura de Weck fand die Juryarbeit mehr "Marathon" und "Hahnenkampf" als erwartet, Kastberger war im Gegenteil davon überrascht, wie "höflich" Tingler heuer war. Der stellte wiederum fest, dass die Jury wieder einmal "zu ihrer eigenen Parodie" geworden sei. Literatur und Spiele, was will man mehr. (Michael Wurmitzer, 30.6.2024)