Das Bild zeigt Notebook und Smartphone mit Inhalten des chinesischen Online-Händlers Temu.
Immer mehr Konsumentinnen und Konsumenten finden den Weg zu Temu, Shein und Co. Das ist nicht nur dem heimischen Handel ein Dorn im Auge.
APA/dpa/Hannes P Albert

Chinesische Anbieter wie Temu, Shein und Aliexpress sind seit geraumer Zeit zu einem Albtraum für den westlichen Handel geworden. Ihre Fähigkeit, eine breite Palette von Billigprodukten in vergleichsweise kurzer Zeit direkt an Konsumentinnen und Konsumenten zu liefern, untergräbt nicht nur die Marktanteile etablierter Mitbewerber, er setzt sie unter massiven Druck. Wie sich herausstellt, ist mit dieser Methode auch der Tiger im Dschungel geweckt worden: Onlinehändler Amazon dürfte jetzt andere Saiten aufziehen.

Um die Herausforderung zu bewältigen, plant Amazon offenbar, die chinesischen Rivalen mit den eigenen Waffen zu schlagen – oder freundlicher formuliert: ein ähnliches Geschäftsmodell zu adaptieren. Wie CNBC berichtet, hat das Unternehmen in einem vertraulichen Treffen mit chinesischen Händlern seine Absicht bekundet, ebenfalls ein Direktversandmodell einzuführen, das die Lieferkette straffen soll.

Besser gut kopiert als schlecht erfunden?

Bei diesem Modell würden chinesische Händler ihre Produkte direkt an die Kunden in den USA senden, wodurch Amazon als Zwischenhändler wegfällt. Dies könnte die Preise drastisch reduzieren, die Lieferzeiten wären mit rund neun bis elf Tagen etwas länger als beim traditionellen Amazon-Service. Nicht bloß ein Schelm, wer sich dabei an Bestellungen von Temu erinnert fühlt.

Das Sortiment des neuen Amazon-Angebots würde sich auf markenlose Produkte konzentrieren, die zu niedrigen Preisen angeboten werden. Bei der Präsentation sollen beispielsweise Bekleidung, Handy-Hüllen und Massagegeräte gezeigt worden sein, die alle für weniger als 20 Dollar erhältlich sein werden.

Nicht nur Kundinnen und Kunden wird ein Anreiz geboten: Der Konzern stellte das Konzept als kostensparende Lösung für Amazon-Verkäufer in China dar und betonte, dass Händler die Möglichkeit hätten, neue Produkte in kleinen Mengen auszuprobieren. Und wieder ein "Treffer": Shein nutzt ein vergleichbares System, bei dem zunächst nur eine begrenzte Anzahl an Artikeln hergestellt wird und erst bei steigender Nachfrage weitere produziert werden.

Bedenkliche Strategie

Amazon selbst hat noch keine offiziellen Kommentare zu diesen Plänen abgegeben, und es bleibt abzuwarten, wann und wie genau dieses neue Angebot implementiert wird. Zunächst soll das Angebot im Herbst in den USA eingeführt werden, spätere Expansionen in andere Märkte, einschließlich Europa, sind nicht ausgeschlossen.

Allerdings stellt sich die Frage, ob diese Strategie nicht bloß eine kurzsichtige Lösung für Amazon darstellt, um die Wettbewerbsposition zu behaupten. Abgesehen davon, dass Amazon ohnehin schon seit langem sein Angebot mit billiger Ware aus China flutet, könnte die Fokussierung auf markenlose, billig produzierte Waren langfristig das Markenimage von Amazon (noch mehr) bei Partnern und Kunden schädigen.

Außerdem könnte diese Geschäftspraxis zu einer weiteren Verschärfung des Preiskampfs im Online-Handel führen, was kleinere Mitbewerber zusätzlich unter Druck setzen und zu einer weiteren Marktkonzentration beiträgen wird. Ein Bereich, in dem Amazon ohnehin schon einen traurigen Trackrecord vorweisen kann. Trotz absichtlich schlechter Suchergebnisse und anderen Methoden, Kunden vom besten Angebot abzuhalten, ist schon seit Jahren bekannt, dass der Onlinehändler vor allem aus seiner Doppelrolle Profit schlägt, Marktplatzanbieter und Verkäufer gleichzeitig zu sein.

Nicht zuletzt eröffnet die Umstellung auf ein Direktversandmodell auch Fragen bezüglich der Nachhaltigkeit und Ethik der Lieferketten. Die Umgehung traditioneller Vertriebswege könnte einmal mehr zu einer Reduzierung von Transparenz in der Herstellung und Lieferung führen. Die größte Herausforderung für Amazon wird in diesem Zusammenhang aber wohl darin bestehen, diese Bedenken zu adressieren, damit Kundinnen und Kunden nach einem kurzen Aufschrei wieder dem beliebtesten Ruf folgen: Dem nach dem kleinsten Preis. (Benjamin Brandtner, 30.6.2024)