Schüchterne Klassenaufsteigerin trifft auf charismatischen Kommilitonen: "Die Gleichung ihres Lebens" spielt an der Pariser École Normale Supérieure.
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Diesem Film fehlt eine Triggerwarnung. "Achtung: Retraumatisierung durch Erinnerung an Mathematik-Matura möglich" wäre im Fall von Le Théorème de Marguerite – Die Gleichung ihres Lebens angebracht. Denn im Spielfilm von Anna Novion geht es um Algebra, Formeln und nichts weniger als den Beweis der Goldbachschen Vermutung ein paar Stufen über dem Pisa-Niveau. Diese Wüste der Mathematiktrockenheit als spannend fließendes Drama zu erzählen ist keine kleine Leistung. Dabei bleibt die Faszination für die abstrakte Zahlenspielerei freilich eine Behauptung. Doch Behauptung ist die Domäne des Erzählkinos, und Titelfigur Marguerite ist eine rechnende Superheldin auf ihrem fernen Mathematikplaneten.

Der Planet heißt in dieser Geschichte École Normale Supérieure, die Pariser Elite-Uni, wo die schüchterne Klassenaufsteigerin gleich doppelt fremd ist. Ihr Doktorvater verhält sich sexistisch gegenüber seinem weiblichen Genie, das droht, ihn in den Schatten zu stellen. Er unterstützt lieber den charismatischen Kommilitonen Lucas. Als ausgerechnet er Marguerite bei einem Doktorandenvortrag einen grundlegenden Fehler nachweist, bricht ihre Welt zusammen. Sie schmeißt alles hin, sucht sich einen Brotjob und lässt die akademische Welt hinter sich.

Selbstfindung im Scheitern

Anna Novion zeichnet ein Psychogramm einer besessenen jungen Frau, die sich erst im Scheitern selbst findet. Diese Prämisse ist einigermaßen vorhersehbar, mitsamt den fast schon mathematisch daraus abgeleiteten Wendungen. In den szenischen Details funktioniert sie aber erstaunlich gut. Viel hängt dabei an der Hauptdarstellerin, die diese Transformation glaubhaft macht.

Weltkino Filmverleih

Verkörpert wird die Titelrolle der Marguerite von Ella Rumpf. Zur Mathematik hatte die 29-Jährige so gar keinen Bezug. "In der Schule war ich wirklich sehr schlecht in Mathematik", sagt sie im Gespräch mit dem STANDARD. "Für den Film habe ich dann drei Monate mit Ariane Mézard, einer der größten Mathematikerinnen Frankreichs, verbracht, um ihre Leidenschaft zu verstehen. Das war mein Rätsel, das ich zu lösen hatte. Ich wusste, dass ich als Schauspielerin diese Leidenschaft rüberbringen muss, die den Zuschauer mitnimmt, auch wenn er nichts versteht."

Arthouse-Shootingstar

Die junge Schweizerin ist ein Shootingstar des europäischen Arthousekinos. Ihr Durchbruch war 2014 der intensive Gewinnerfilm des Max-Ophüls-Preises Chrieg, in dem sie ein kahlköpfiges animalisches Problemkind auf einer Schweizer Alm spielt. Mit einem Händchen für eigenwillige, frische Regiestimmen ist sie seitdem in eine ganze Reihe unterschiedlichster Rollen geschlüpft – und das in mehreren Ländern und Sprachen.

Als okkultes Medium Fleur Salomé hat sie in Marvin Krens Netflix-Serie Freud das Wien der Jahrhundertwende unsicher gemacht und Kopfdoktor Sigmund den Kopf verdreht. International spielte sie außerdem im französischen Body-Horror Raw der späteren Palmen-Gewinnerin Julia Ducournau und im wilden deutschen Coming-of-Age-Film Tiger Girl von Jakob Lass mit. Durchaus gewagte Projekte, bei denen Rumpf ihre Kreativität auslebt: "Ich finde, auch im aktuellen Film ist es eine schöne Metapher für Bewegungen im Leben, dass Chaos nicht nur negativ ist, dass im Chaos auch Kreativität steckt."

Einen Fuß in Hollywood

Mangelnde Abwechslung muss sie sich also nicht vorwerfen lassen. Dabei ist Ella Rumpf noch keine 30. In Paris geboren und in Zürich aufgewachsen, hat sie auch schon einen Fuß in Hollywood, zumindest im Serienformat: mit einer Gastrolle in Succession und zuletzt einer Hauptrolle in Tokyo Vice unter der Regie von Michael Mann.

Als Nächstes spielt sie in der griechisch-schweizerischen Koproduktion Novak erneut eine Forscherin als Mitglied einer neurowissenschaftlichen Kommune. Vielleicht hilft ihr dabei ja das Théorème de Marguerite. (Marian Wilhelm, 1.7.2024)