Ralf Rangnick
Der Mann, dem die Fußballnation vertraut: Seit Ralf Rangnick das ÖFB-Team trainiert, herrscht Aufbruchstimmung. Seine Spieler behandelt er wie Erwachsene. Sie danken es ihm mit Erfolgen.
REUTERS/Fabrizio Bensch

Jeder Spaß hat seine Grenzen. Normalerweise wird in der Messenger-Freundesgruppe munter über Fußball diskutiert, werden Transfergerüchte geteilt, Sprüche geklopft, neckt man oder bestätigt man einander. "Wer soll neuer Teamchef Englands werden?", schreibt einer. Die Reaktion kommt prompt und ausgesprochen deutlich: "Finger weg!" Und: "Rangnick gehört zu uns!!!!"

Spektakulärer Sieg

Der Trainer der Nationalelf ist in Österreich spätestens mit dem spektakulären EM-Gruppensieg zum beliebtesten Deutschen der Gegenwart mutiert. Fußball-Großereignisse wie die Europameisterschaft sind immer dazu angetan, für Begeisterung zu sorgen. Doch dieses Mal ist es anders: Die Euphorie schert gewaltig aus. Das liegt vor allem an ihm: 181 Zentimeter groß, sportlicher Anzug zum T-Shirt und Sneakern, Designerbrille. Immer wieder schummelt sich der schwäbische Dialekt durch.

Diesen Samstag ist Ralf Rangnick 66 Jahre alt. Er begeht seinen Geburtstag bei der Europameisterschaft in Deutschland, im Teamcamp der österreichischen Nationalmannschaft in Berlin – vier Tage nach dem 3:2 über die Niederlande, drei Tage vor dem Achtelfinale gegen die Türkei. Österreich hat die schwierige Gruppe D als Erster überstanden. Internationale Medien überschlagen sich mit Lob für den Spielstil der Rangnick-Truppe. "Just fantastic to watch", heißt es zum Beispiel im englischen Guardian. Rangnick habe eine Turniermannschaft gebaut, seine Idee des Fußballspielens wird durchdekliniert, versucht, hinter das Geheimnis seines Erfolgs zu kommen. Wer also ist der Mann, der in Österreich eine Fußballeuphorie entfacht hat, wie man sie schon lange nicht mehr erlebt hat? Und wie um alles in der Welt ist ihm das gelungen?

Aus Baggana an die Seitenlinie

Ralf Rangnick wird am 29. Juni 1958 in Backnang, etwa 30 Kilometer nordöstlich von Stuttgart geboren. Rund 38.000 Menschen wohnen hier, im historischen Stadtkern dominiert das Fachwerkhaus, Backnang ist also eine Fachwerkstadt. Auch der deutsche Schlagersuperstar Vanessa Mey stammt aus "Baggana", wie die Stadt auf Schwäbisch heißt. Rangnick kommt aus einer Flüchtlingsfamilie, Vater Dietrich stammte aus Königsberg (heute Kaliningrad), im sächsischen Flüchtlingslager Lichtenstein lernte er Erika aus Wroclaw, Breslau, in Polen kennen. Die Rangnicks zog es nach Backnang und in die Kleinbürgerlichkeit, Dietrich arbeitete als Schriftsetzer bei den Stuttgarter Nachrichten.

Im Gespräch mit der deutschen Zeit erinnert sich Rangnick an seine Kindheit: "Ich musste in meinem Leben früh Verantwortung übernehmen. Ich war schon als Kind in einer Art Erwachsenenrolle.“ Mutter Erika hatte gesundheitliche Probleme: "Mein Vater ging morgens zur Arbeit und gab mir häufig mit auf den Weg: ‚Pass bitte gut auf Mama auf.‘"

Rangnick galt als sensibles Kind – und war ein ausgezeichneter Schüler. Als er Ende der 70er am Max-Born-Gymnasium maturierte, war sein Weg in den Fußball längst vorgezeichnet. Als Bub spielte er auf den Straßen Backnangs, mit sechs Jahren steckte ihn sein Vater in den örtlichen Verein. Rangnick reüssierte – aber anders als gedacht. Für eine große Karriere als Spieler reichte das Talent nicht, der Mittelfeldspieler (Ulm, Heilbronn und beiden Amateuren des VfB Stuttgarts) schaffte es bis in die dritte deutsche Liga. Nebenbei studierte er Sport und Englisch auf Lehramt und entschied sich - für damalige Verhältnisse früh - für eine Rolle an der Seitenlinie. Man muss kein Instrument perfekt beherrschen, um ein Orchester zu dirigieren.

"Fußballprofessor"

Rangnick coachte sich über das deutsche Unterhaus ins Rampenlicht. Innovative Spielsysteme, taktische Neuerungen und analytische Präzision waren Werkzeuge, die schnell für Aufmerksamkeit sorgten. Als junger Trainer trifft er Anfang der 1980er-Jahre beim württembergischen Verband auf seinen späteren Mentor Helmut Gross, einen Pionier der Viererkette und Raumdeckung. Er ebnete den Weg für eine neue Trainergeneration. Gemeinsam verfeinerten Rangnick und Gross das Konzept des Pressings und Gegenpressings, das den Fußball nachhaltig beeinflusste.

1998 führte Rangnick Ulm in die zweite Liga, später zog es ihn zu Stuttgart, Hannover, Schalke und zu Hoffenheim, dem Verein des Milliardärs Dietmar Hopp – die Kraichgauer führte er von der dritten Liga in die Bundesliga. Rangnick hatte Erfolg. Deutsche Medien gaben ihm den Spitznamen "Fußballprofessor". Ein Titel, der Rangnick nicht unbedingt gefiel, wie er dem Fußballmagazin ballesterer erzählte: "Damals warst du in Deutschland als relativ unbekannter Trainer, der nicht in der Bundesliga gespielt hat und auch noch studiert hat, in der Theoretikerecke. Und Theoretiker war gleichbedeutend mit Nicht-Praktiker."

Ralf Rangnick
Da kann man ruhig mal klatschen: Trainer Rangnick (Mitte) hat Österreich ins Achtelfinale geführt.
IMAGO/Matt West/Shutterstock

Was er in der Praxis kann, zeigte er spätestens, als er 2011 mit Schalke den DFB-Pokal holte – seinen bis dato einzigen großen Titel. Der Erfolg, die akribische Arbeit forderten ihren Tribut. Diagnose: Burnout, Rangnick nahm sich eine Auszeit. Und kehrte gestärkt zurück, trat in den Red-Bull-Kosmos ein, fungierte als Koordinator und Sportdirektor in Leipzig und Salzburg. Mit Rangnicks Konzepten entfaltete Red Bull Salzburg eine Dominanz, die man so in Österreichs Fußball lang nicht mehr gesehen hatte. Leipzig etablierte sich in der deutschen Bundesliga. Später wechselte er als interimistischer Trainer zu Manchester United und sollte dem englischen Großklub beratend erhalten bleiben.

Skepsis am Telefon

Frühling 2022. Rangnicks Telefon klingelt, am anderen Ende ÖFB-Sportdirektor Peter Schöttel. Er ist nach Österreichs verpasster Qualifikation für die WM in Katar auf der Suche nach einem neuen Trainer. Es soll schnell gehen, für Österreich steht die Nations League auf dem Programm. Rangnick zögert. Schöttel erinnert sich später in einem Podcast: "Ich war mir lange unsicher, wie Ralf sich entscheidet." Doch am 29. April 2022 wird Rangnick in Abwesenheit als neuer Teamchef präsentiert. Man hat sich nicht unbedingt gesucht, aber schlussendlich gefunden. Seither ist viel passiert: Österreich qualifizierte sich souverän für die EM 2024, mittlerweile hat Rangnick den besten Punkteschnitt aller ÖFB-Teamchefs, die mindestens zehn Länderspiele leiteten.

Der Deutsche hat in Österreich eingeschlagen. Rangnick ist ein Mann der Klarheit – und brachte ein Maß an Professionalität in einen Verband, der auch immer wieder mit den Erfolgen der Vergangenheit zu kämpfen hatte. In einem Interview sagte er, dass man Erfolge "schon ein oder zwei Tage feiern kann, aber dann muss der Blick wieder nach vorne gerichtet werden". Das nur in Österreich berühmte Córdoba, der 3:2-Sieg gegen Deutschland in einem für Österreich völlig bedeutungslosen Spiel, fand 1978 statt.

Währung und Haltung

Auf dem Platz ist Stress Rangnicks Trumpf. Stress für den Gegner, permanent, keine Ruhe lassen, Fehler erzwingen, dem Zufall nachhelfen. Für den Trainer gilt das nicht: "Er ist ungemein gelassen und cool, verliert nie die Beherrschung", sagt Co-Trainer Lars Kornetka in einer TV-Dokumentation. Und: "Er liest das Spiel wie nur wenige andere. Er reagiert, passt an, schärft nach." Neben seiner Fußballidee steht für den 66-Jährigen das Teamgefüge über allem. Rangnick will eine Einheit, vermittelt das ohne platte Phrasen. In der Doku Teamgeist – Unser Weg sieht man seine Pausenansprachen. Sie sind keine rhetorischen Kunstwerke, aber auch keine martialischen Kampfansagen. Neben taktischen Analysen ist die Botschaft simpel, aber geschickt verpackt: "Das ist der Gegner, das seid ihr. Ihr seid besser. Zeigt es."

Die Kunst eines Trainers ist das Mittelmaß: Rangnick ist kein unnahbarer Schleifer, aber auch kein bester Freund. Manchmal wirkt er wie der nette, smarte Onkel, der einem nach der Familienfeier einen Hunderter zusteckt – wenn das Zeugnis gut war. Dabei behandelt er seine Spieler, die so unterschiedliche Hintergründe, so verschiedene Karrieren aufzuweisen haben, wie Erwachsene. Sie zahlen es mit Vertrauen, Respekt und Aufopferung zurück. "Ich will, dass ihr das beste, das geschlossenste Team bei der EM seid", sagt er immer wieder. Wenn der Eindruck nicht ganz täuscht, ist ihm das gelungen.

Blickrichtung Türkei, Blickrichtung Achtelfinale.
APA/GEORG HOCHMUTH

Auch sonst ist der Vater von zwei erwachsenen Söhnen keiner, der seine Meinung hinter dem Berg hält. In einem STANDARD-Interview vor der EM gibt er sich offen: "Ich sehe die Gefahr, dass die Rechtsextremen an die Macht kommen." Kürzlich wiederholte er in der ZiB 2 seinen Standpunkt: "Wer nach hundert Jahren noch immer nicht verstanden hat, was uns alle ins Verderben geführt hat, dem ist nicht mehr zu helfen." No pasarán.

Standhaft blieb Rangnick auch, als ihn kurz vor der EM ein unmoralisches Angebot des FC Bayern erreichte. Der Münchner Gigant wollte ihn als Trainer, Rangnick entschied sich für Österreich. Spätestens da flogen ihm die Herzen und Träume des Landes zu. Rangnick gehört zu uns. (Andreas Hagenauer, 29.6.2024)