Die Kultfigur: Österreichs Rekordteamspieler Marko Arnautovic.
AFP/RONNY HARTMANN

Es war Mittag, als Österreich gegen Frankreich angepfiffen wurde. Ich fuhr — zur Beruhigung für alle, die immer noch glauben, die Klimakatastrophe ließe sich im Kapitalismus verhindern: in einem elektrischen Auto — Richtung Santa Barbara, blieb äußerst diszipliniert und bat meine Freundin, die hinten mit unserer bald fünfjährigen Tochter saß, nur alle fünfzehn Minuten um den Spielstand. Nach der dritten Bitte war es passiert.

"Und jetzt ist es passiert" — das war der Satz, der mein Leben als Zuschauer des rot-weiß-roten oder schwarz-weißen Teams begleitete. Ich weiß nicht, wie oft ich ihn gehört habe, manchmal, oft sogar, hieß es auch: "Und jetzt ist es wieder passiert", was jedes Mal bedeutete, dass der Kommentator insgeheim auf mehr gehofft und mit mehr gerechnet hatte, dass die Mannschaft durchaus Grund zu Erwartungen geben und man als Österreicher trotz allem Grund zur Hoffnung im Fußball haben könnte, aber dann war es passiert und wieder passiert: Österreich hatte ein Tor bekommen oder noch eines oder noch eines.

Die gute Fußballfee

Auf der Fahrt nach Santa Barbara wusste ich nichts vom Spielgeschehen, nichts von Ballbesitz oder Chancenverteilung und auch nicht, wer das Tor für Frankreich geschossen hatte; ich hatte bloß die Startaufstellung gelesen und rief in mir Marko Arnautović an, ich beschwor den Teamchef, ihn einzuwechseln, ich hoffte, Marko werde den Ausgleich und den Siegestreffer erzielen, aber nach der letzten Bitte um den Spielstand war daraus der Endstand geworden. Ich war enttäuscht, aber in Kalifornien, ich ließ mir meine gute Laune nicht verderben.

Am Butterfly Beach erfuhr ich später, wer das Tor geschossen hatte. Maxi Wöber tat mir unendlich leid, mehr als die meisten anderen, hätten sie ein Eigentor geschossen, weil Maxi Wöber einmal für Rapid spielte. Daher ist auch Marcel Sabitzer derart gut, und ich freue mich unbändig, wenn der Teamchef in einem so wichtigen Spiel wie gegen Holland Leo Querfeld einwechselt, einen Grünen. Und so ist es überhaupt: Böte mir die gute Fußballfee an, einen von zwei Wünschen zu erfüllen: Österreich Weltmeister oder Rapid Meister, würde ich, ohne mit der Wimper zu zucken, letzteren wählen.

Ich würde mir nie ein rot-weiß-rotes Trikot anziehen, mir nie Fahnen auf die Wangen malen, bei I Am From Austria wird mir schlecht, und "Immer wieder Österreich" ist dermaßen dumpf, dass es nur folgerichtig ist, wenn die Rechtsextremen ihre Hymne um dasselbe Motto gestrickt haben, angereichert um "für immer und ewig". Ich kann auch die rot-weiß-roten Fähnchen nicht sehen, in deren Mitte der Schriftzug eines Salzburger Biers prangt, ich verachte Nationalismus und habe nichts für Patriotismus übrig, schon gar nicht in diesem Land, aber ich bin beim Fußball immer für Österreich, wahrscheinlich weil ich als Bub beim Gaberln und Schießen im Garten davon geträumt habe, einmal im Praterstadion zu stehen und die Hymne zu hören und von allen gesehen und beim Tricksen und Toreschießen bewundert zu werden.

Dass ich von einer Niederlage gegen Frankreich enttäuscht war, zeigte mir die Zeitenwende, die Zäsur an. Und nicht aus klassischer österreichischer Selbstüberschätzung, die lediglich die Kehrseite dessen ist, höhnisch dem Gegner zu applaudieren, wenn der zwei oder drei Tore in Vorsprung gegangen ist, weil man ja immer gewusst hat, dass die nicht können und vor allem nicht wollen. Sondern weil diese Mannschaft so gut ist, die bei weitem beste, seit ich Fußball verfolge.

Man rechnet eben nicht mehr mit dem "Jetzt ist es passiert", das eingestehen muss, was man gewusst und befürchtet, aber wider besseres Wissen und dräuende Vorahnung unter Verschluss gehalten hat. Zumal es, wenn es passiert ist, auch kein Malheur ist, weil die Köpfe oben bleiben. Weil diese Mannschaft so unösterreichisch spielt, womit ich die Zeitspanne meine, in der ich Fußball schaue, nie aufgibt, immer den Ball haben und ein Tor schießen will, sich nicht versteckt.

Wunderbare Ironie der Geschichte

Genau das beeindruckte mich, als Ralf Rangnick nach dem Unentschieden gegen Frankreich in seinem dritten Spiel als Teamchef auf einen österreichischen Reporter traf, der meinte, nicht schlecht, immerhin habe man gegen den Vizeweltmeister remisiert, und das ansehnlich. Mit "immerhin" könne er nichts anfangen, antwortete der Teamchef, das sei nicht sein Anspruch, auch nicht jener der Mannschaft, auch nicht gegen den Vizeweltmeister. Es ist eine wunderbare Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet ein Deutscher — kaum ein Ressentiment ist in Österreich stärker als das gegen die Deutschen, die Piefke, nichts liebt der gemeine Österreicher mehr, als ungelenk einen deutschen Akzent nachzuäffen, so wie die gemeine Österreicherin für jede Mannschaft ist, die gegen Deutschland spielt — den Österreichern das schlechte Österreichische im Fußball ausgetrieben hat: das "Immerhin" und "Eh ganz gut" und "Die anderen sind halt größer, mehr wert, traditionell stärker, was soll man tun".

Ende Mai 1990 fuhr ich zum ersten Mal ins Praterstadion. Mein Freund und ich hatten ein Transparent bemalt, auf dem "Oberwart grüßt das Team" stand, oder so ähnlich; es ging darum, dass Oberwart grüßt. Das Transparent konnten wir nirgendwo anbringen, und dass der größte Held meines Lebens nicht traf, wusste ich, nicht aber, dass Robert Pecl (ein Grüner!), Manfred Zsak (ein Violetter) und Toni Pfeffer (ein Violetter) drei Tore schossen, ehe Ronald Koeman und Marco van Basten in diesem Freundschaftsspiel noch für Holland trafen, kurz vor der WM in Italien, in der es dann gleich im ersten Spiel passierte, als der kleine Toto Schillaci nach einer Flanke am höchsten sprang und das 1:0 für Italien köpfelte. Seitdem hatte Österreich nicht mehr gegen Holland gewonnen. Im März 2008 war ich im Stadion, Österreich führte 3:0 gegen Holland — und dann passierte es, und zwar viermal hintereinander.

Mit "immerhin" könne er nichts anfangen, antwortete der Teamchef, das sei nicht sein Anspruch, auch nicht jener der Mannschaft.
IMAGO/Alexey Filippov

"Bitte, Marko"

Als ich kurz vor Anpfiff mit meiner Tochter im Wilden Westen Wiens, nicht weit vom herrlichen Stadion der Grün-Weißen, zu unseren Nachbarn nach oben ging, befürchtete ich keinen Moment, Österreich könnte gegen Holland verlieren, nicht nur, weil das Achtelfinale so gut wie gebucht war und die Mannschaft frei aufspielen konnte. Anders als meine Nachbarn freute ich mich, dass Marko Arnautović in der Startelf stand, mein Held der letzten Jahre, auch wenn er nur kurz in der Jugend bei Rapid war. Von Toni Polster, meinem liebsten Violetten aller Zeiten, schnitt ich damals alle Fotos aus den Zeitungen, um die Wände meines Zimmers zu verschönern.

Anders als bei Polsters Elfmeter gegen die DDR, als ich mich unter unserem Wohnzimmertisch versteckte, weil ich nicht hinsehen konnte, fieberte ich in Berlin auf der Couch meiner Schwiegereltern zwar mit Arnautović mit, als er zum Elfmeter gegen Polen antrat, raunte ihm in mir "Bitte, Marko" zu, aber ich konnte hinschauen und freute mich vielleicht sogar mehr als er, als er den Ball flach und unhaltbar ins rechte Eck schoss. Jetzt aber, gegen Holland, musste ich meine Nachbarn darauf hinweisen, wo überall Arnautović auf dem Feld in Erscheinung trat, wie er in der eigenen Hälfte einen Einwurf der Holländer abfing, weiterspielte und sofort nach vorn sprintete, oder wie er da auf einmal links im Mittelfeld auftauchte, und natürlich verzieh ich ihm, den Ball knapp vor dem Tor nicht getroffen zu haben, litt allerdings mit oder für ihn.

Faul, überheblich, Prolet

Wahrscheinlich liebe ich Marko Arnautović so, weil er wie Toni Polster (nichts reicht an diese Liebe heran, sie war die erste, ich stellte mir vor, wir würden Freunde und spazierten gemeinsam durch Oberwart) in Österreich oft angefeindet wurde, als faul, überheblich, Prolet. Der Ausgleich zum 2:2 beunruhigte mich nicht; es ging ja noch fünfzehn Minuten. Nach dem Schlusspfiff bekam ich unzählige Nachrichten von Menschen aus aller Welt, die mich beglückwünschten, als hätte ich drei Tore geschossen. Ich nahm die Glückwünsche demütig an. Ein Freund, den ich auch dafür liebe, dass er bei der Euro in Österreich und der Schweiz auf dem Weg ins Happel-Stadion hinter rot-weiß-rot Bemalten, die die Polen aufs Widerlichste beschimpften, laut sagte: "Dass unsere immer die Primitivsten sein müssen!", schrieb: "Jetzt muss sogar Clemens mitsingen. Bei der 2. Hymne." Ich antwortete: "Ich singe nonstop I Am From Austria!" (Clemens Berger, 29.6.2024)