Rettungsboot
Vor der Nationalratswahl im Herbst wird vor allem das Thema Asyl als politischer Zankapfel herhalten müssen.
IMAGO/Europa Press/ABACA

Diese Wahlauseinandersetzung wird wild – und, das lässt sich bereits voraussehen, von einem Thema dominiert: Asyl und Migration. Vor allem die FPÖ wird es trommeln, die anderen Parteien mehr oder weniger darauf einsteigen. Fraglos gibt es massive Probleme, vor allem in Sachen Integration. Schulen ächzen wegen Überforderung, Jugendkriminalität wird zunehmend zu einem Thema. Wie soll ein liberales, seriöses Medium mit diesen Herausforderungen umgehen? Wie eine notwendige Debatte abbilden, ohne Klischees zu bedienen und Vorurteile zu transportieren? Die STANDARD-Redaktion hat diese Frage vor kurzem intern diskutiert – mit durchaus unterschiedlichen Zugängen. Auszüge einer leidenschaftlich geführten Debatte mit einem Beschluss: Wir diskutieren weiter – und halten in unserer Berichterstattung auch zukünftig die Balance.

Es ist die Art der Migration, die Menschen verunsichert und erzürnt

Nein, Ausländer, Migrantinnen und Flüchtlinge sind keine Bedrohung. Im Gegenteil, Zuwanderung macht uns langfristig reicher, wirtschaftlich und kulturell. Aber Migration ist politisch ein massives Problem, weil sie Menschen verunsichert und sie in die Hände von Parteien treibt, die Wohlstand und Demokratie gefährden. Es ist die Art, wie Migration abläuft, die am meisten erzürnt – unkontrolliert und durch den Missbrauch des Asylrechts für Zwecke, für das es nie gedacht war.

Wehrhafte Demokratien müssen sich dagegen wehren. Dazu muss darüber offen und tabulos diskutiert werden, in der Politik genauso wie in Medien, die den Menschenrechten verpflichtet sind. Das habe ich in einem vielgelesenen Essay vor zwei Wochen versucht. Staaten müssen wieder die Fähigkeit erhalten, zu entscheiden, wer aufgenommen wird und wer nicht. Gelingt das nicht, dann wehren sich die Wähler an der Urne. Die rechte Welle rollt bereits an. Sie zu stoppen ist die wichtigste Aufgabe von allen. (Eric Frey)

Migranten
Transfer von Flüchtlingen aufs Festland.
EPA/CIRO FUSCO

Was wir unseren Leserinnen und Lesern schuldig sind

Wozu sind Medien da? Dazu, die Realität abzubilden, zu hinterfragen, den Finger in die Wunde zu legen, einen Ausblick zu wagen. Dass wir in Österreich eine gespaltene Gesellschaft haben, ist so eine Wunde. Viele Menschen mit Migrationsgeschichte fühlen sich nicht willkommen. "Einheimische" folgen oft bereitwillig der einfachen Erklärung, Zugewanderte seien der Grund für Probleme. Das ist zumindest die wahrgenommene Realität.

Dass diese reflexhafte Pauschalstigmatisierung so oft unbedacht erfolgt, ist nicht nur die Schuld von populistischen Parteien, die von Sündenböcken leben. Auch Medien treiben teilweise Ausgrenzung genüsslich voran. Dem müssen wir uns entgegenstellen. Nicht indem Probleme verschwiegen werden. Aber indem wir Vorurteilen Fakten gegenüberstellen, Berührungspunkte schaffen und auf zugrunde liegende, oft ganz und gar hausgemachte Ursachen hinweisen. Das ist nicht immer einfach, aber das sind wir unseren Leserinnen und Lesern schuldig. (Manuela Honsig-Erlenburg)

Schülerinnen
Österreich hat viele Reformen und Investitionen im Bildungsbereich verschlafen.
Heribert Corn

Schaffen wir das? An vielen Schulen und Kindergärten nicht mehr

Der Staat ist mit der Integration zunehmend überfordert. Am klarsten zeigt das ein Blick in die Bildungsstätten der Ballungszentren. Auch nach Kindergarten und acht Jahren Schule mangelt es viel zu vielen Migrantenkids an Deutschkenntnissen und anderen Basisfähigkeiten. Da droht eine Gruppe der Abgehängten zu wachsen, ohne Chance auf gute Jobs. Für den Zusammenhalt der Gesellschaft ist das Sprengstoff.

Das System sei schuld, heißt es an dieser Stelle oft. Ja eh: Österreich hat Reformen und Investitionen verschlafen. Doch viele Erwartungen sind utopisch. Wo sollen die Massen an Lehrern herkommen, um die ersehnte Wunderschule zu konzipieren? Derzeit gelingt es nicht einmal, alle bestehenden Planposten zu besetzen.

Kommen stetig neue (Flüchtlings-)Kinder dazu, deren Integration aus verschiedenen Gründen besonders schwierig ist, werden die Versuche immer häufiger scheitern. Das Ziel muss deshalb sein, den Zustrom nachhaltig zu drosseln. Über das Wie ist offen zu diskutieren. (Gerald John)

Österreich ist in Asylfragen ein Rechtsstaat – und das soll so bleiben

Österreich nimmt überdurchschnittlich viele Flüchtlinge in der EU auf. Das hat vor allem einen Grund: Unser Land ist der erste Staat auf der Balkanroute, in dem Schutzsuchende ein funktionierendes Asylwesen vorfinden – sowohl hinsichtlich der Verfahren als auch der Grundversorgung. Das zeugt von Rechtsstaatlichkeit und sollte öfter positiv hervorgehoben werden.

Nun sind Schulen und Kindergärten durch den Familiennachzug überfordert, der eine erwartbare Folge dieser Rechtsstaatlichkeit ist. Der Wunsch nach weniger Flüchtlingen im Land ist verbreitet. Die FPÖ ruft nach einem Asylstopp – doch das schüttet das Kind mit dem Bade aus. Die Möglichkeit, Asyl zu beantragen, zu beseitigen, wäre ein menschenrechtlicher Rückfall um viele Jahrzehnte.

Wirklich helfen würde eine gerechtere Aufteilung von Flüchtlingen in der EU. Damit das nach vielen Jahren endlich klappt, sollten Österreichs Politiker mit aller Kraft darauf hinarbeiten, statt einander mit Härteparolen zu übertreffen. (Irene Brickner)

Kinder
Auch nach acht Jahren Schule mangelt es vielen migrantischen Kindern an Deutschkenntnissen.
HANS KLAUS TECHT / APA / picture

Migrationspolitik beginnt zu Hause

An den Außengrenzen der EU muss etwas geschehen. Das Einzige, was bisher halbwegs funktioniert hat, war das Abkommen mit dem türkischen Autokraten Erdoğan: Die EU gab ihm Milliarden, um die (hauptsächlich syrischen) Flüchtlinge zu versorgen. Dafür ließen die Türken nicht mehr die Boote von ihrer Küste weg.

Der Fokus muss aber auf dem liegen, was hier in Österreich passiert. Wir sind ein Einwandererland, es gibt laut Statistik Austria 2,4 Millionen Menschen mit "Migrationshintergrund" (beide Eltern im Ausland geboren). Das sind 26 Prozent. Eine Million ist aus einem Nicht-EU-Staat. Davon 280.000 aus der Türkei. Syrer, Iraker, Afghanen bewegen sich im Zehntausenderbereich. Viele davon sind hier geboren oder als kleine Kinder hergekommen. Sie werden nicht mehr weggehen. Sie dürfen aber meist nicht wählen. Sie leben teils sehr anders als wir. Vor 15 Jahren sagte mir eine türkischstämmige Politikerin, in Wien seien etwa 80 Prozent der türkischen Ehen "arrangiert". Ist das noch so? Es geht um realistisches, faires, aber genaues Hinschauen. Eine Bestandsaufnahme. (Hans Rauscher)

Flüchtlingslager
Die Bedingungen in Flüchtlingslagern sind oftmals schwierig.
IMAGO/Hasan Mrad

Nicht auf den Schlagzeilenwettkampf reinfallen

Wenn wir im STANDARD so wie vor zwei Wochen einen Text bringen, in dem eine Aufweichung der Asylrechte gefordert wird, um die Migrationskrise zu beenden, dann bin ich zwar vollkommen anderer Meinung. Aber ich halte es für legitim, diese Geschichte zu publizieren. Allerdings hätte ich mir ein anderes Format für diese heikle Frage gewünscht. Mit einem Für und Wider, in dem beide Positionen nebeneinanderstehen, wären wir dem Thema gerechter geworden, auch weil so viele in der Redaktion das anders sehen.

Überhaupt müssen wir aufpassen, nicht auf den Schlagzeilenwettkampf hineinzufallen, den FPÖ und ÖVP, und nun langsam auch die SPÖ, da veranstalten. Sie fordern noch härtere und noch schärfere Asylmaßnahmen, die aber oft nicht umsetzbar sind und vermutlich auch nichts bringen würden. Wir sollten alles besonders gründlich prüfen, bevor wir berichten. Dann haben wir vielleicht nicht als Erste die Geschichte, aber wir haben sie als Erste richtig eingeordnet. (Kim Son Hoang)

Demonstration
Während die Migrationsdebatte medial oftmals kippt, gibt es weiterhin Menschen, die auf Österreichs Straßen für Menschenrechte einstehen.
APA/TOBIAS STEINMAURER

Rechte Strategien nicht aufgehen lassen

Die Debatte kippt. Immer öfter sind auch in seriösen Medien gefühlte Wahrheiten über Migration, Integration, vor allem aber über muslimische Menschen zu lesen. Rechtes Framing wird übernommen, die bloße Existenz Betroffener problematisiert, Menschenrechte infrage gestellt. Hinzu kommt die Darstellung muslimischer Menschen fast ausschließlich im Kontext mit Kriminalität, Krieg und Islamismus, obwohl die Kriminalität wegen Eigentums-, Wirtschafts- und Cyberdelikten steigt und die Top-drei-Herkunftsländer ausländischer Verdächtiger Rumänien, Deutschland und Serbien sind. Das verzerrt die Realität und positioniert Muslim:innen genau da, wo die Rechten sie haben wollen: außerhalb der Gesellschaft, nicht als Teil von ihr.

DER STANDARD tritt in seiner Blattlinie für Toleranz gegenüber allen ethnischen und religiösen Gemeinschaften ein und bekennt sich in seinem Redaktionsstatut zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Diese Prinzipien gilt es hochzuhalten – in Zeiten, in denen der Diskurs immer ausgrenzender, vermeintliche Lösungen immer menschenfeindlicher werden. (Noura Maan)

Wir müssen Informationen ohne Tabus liefern, nicht Anwaltsjournalismus

Keine Frage, Berichterstattung zu Asyl und Migration ist eine besondere Herausforderung. Es geht um menschliche Schicksale, oft um Leben und Tod. Und um Ängste, Unsicherheit im Land. Kein Wunder, wenn das Thema politisch missbraucht wird – stark emotionalisiert. Ausländerfeindlichen Rechtspopulisten dient es zur Hetze. Auf der anderen Seite nutzen NGOs Dramen von Flüchtlingen, um Probleme und Missbrauch zu banalisieren. In diese Fallen der Polarisierung dürfen wir nicht tappen. Wer seine Meinung dazu anbringen will, soll einen Kommentar schreiben. Es gibt keinen Grund, bei Berichten über Migration andere Maßstäbe anzulegen als bei anderen Themen. Was unser Herausgeber bei der Gründung 1988 vorgab, gilt unverändert: Wir sind nicht dazu da, Politik zu machen. Wir liefern Leserinnen und Lesern möglichst beste Informationen, damit sie sich selbst ein Bild von der Welt machen können. Wir machen ein liberales Medium, ohne Tabus und Denkverbote, nicht Anwaltsjournalismus. (Thomas Mayer)

Seenotrettung
Lampedusa rief im September 2023 den Notstand wegen Überfüllung aus.
IMAGO/Luca Zennaro

Probleme aufzeigen? Ja, aber hier fehlt die Verhältnismäßigkeit

Als in den ersten Berichten einer Mutter, die ihren Sohn in einer Hundebox quälte, nichts zur Herkunft der Verdächtigen zu lesen war, wunderte ich mich. Auch über meine Verwunderung: Es ist plötzlich normal geworden, die Herkunft zu nennen.

Mich wundert, wieso dies das Attribut ist, das bei Straftaten stets so selbstverständlich angeführt wird, teils ohne weiteren Kontext. Berichten wir so wirklich, was ist? Die Zahl der Gewaltdelikte ist in den letzten Jahrzehnten relativ stabil geblieben. Die Tätergruppe ist, heute wie damals, vor allem: jung und männlich. Beides Attribute, die in den in der Kriminalitätsstatistik überdurchschnittlich vertretenen Bevölkerungsgruppen, oft aus Kriegsgebieten, überrepräsentiert sind.

Das gesellschaftliche Bild von ihnen ist auch deshalb negativ geprägt. Werden sie genannt, dann in Bezug auf Kriminalität, Migration, gescheiterte Integration. Wir müssen über Probleme berichten. Aber es fehlt die Verhältnismäßigkeit. (Muzayen Al-Youssef)

Herkunftsnennung? Ja, die Leserinnen und Leser sollen informiert werden

Kriminalität ist ein emotionales Thema, das Leserinnen und Leser stark interessiert. Als Gerichtsreporter, der täglich in den Verhandlungssälen sitzt und über Delikte von Diebstahl bis Doppelmord schreibt, lernt man, das Thema emotionsloser zu betrachten. Ebenso die Frage der Herkunftsnennung, die STANDARD-intern umstritten ist. Man befeuere damit rassistische Vorurteile, lautet die Befürchtung.

Ich sehe das nüchterner: In meinen Reportagen werden Geschlecht, Alter, Einkommensstatus und eben auch die Staatsbürgerschaft als Fakten genannt. Was die geschätzten Leserinnen und Leser mit diesen Informationen anfangen, bleibt diesen überlassen. Aus meiner Sicht kann es durchaus interessant sein, wenn man unter Frauenmördern in Wien nach meiner Wahrnehmung in zweieinhalb Jahren nur zwei "autochthone" Österreicher hatte und der Rest Migrationshintergrund aufwies. Dann gibt es möglicherweise ein Problem, das man sich anschauen sollte. (Michael Möseneder)

Migranten
Aus dem Mittelmeer gerettete Migranten nach ihrer Ankunft auf Lampedusa.
EPA/CIRO FUSCO

Die offene Gesellschaft im Interesse aller, die hier leben (wollen), verteidigen

Wenn wir über Migration und Integration glaubwürdig und relevant schreiben wollen, brauchen wir eine stabile Feuermauer zwischen Journalismus und Aktivismus und einen klaren Blick auf das, was ist – und was es zu verlieren gibt, wenn Integration nicht gelingt. Im Interesse aller, die hier leben (wollen). Die Leitlinie hat der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper vor 80 Jahren in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde publiziert – im Exil in Neuseeland. Er wusste, wie fragil freie, demokratische Gesellschaften sind, wie schnell sich menschenverachtender Furor ausbreiten kann, wenn die Freiheit nicht hellwach verteidigt wird: "Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen." Darum wehrhafte Demokratie. (Lisa Nimmervoll)

Normalität unserer Einwanderungsgesellschaft abbilden

Es liegt in der Natur der medialen Berichterstattung, dass sie den Schwerpunkt auf die Ausnahmen legt. Wenn es ums Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft – ja, das sind wir, seit Jahrzehnten schon – geht, dann sind das meistens die negativen Ausnahmen, die Probleme, die Konflikte. Darüber zu informieren ist unsere vordergründige Aufgabe, der wir auch sehr gewissenhaft nachkommen. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Was aber dringend fehlt, ist die Normalität.

Wo bleiben Eingewanderte, Flüchtlinge und ihre Nachkommen in den sogenannten "Geschichten aus dem Leben", abseits von Kriminalität, Religion oder angeblich misslungener Integration in die Mehrheitsgesellschaft? Diese Perspektive schulden wir unseren Leserinnen und Usern auch, insbesondere jenen außerhalb der Großstadt Wien. Bosnische Pflegekräfte, syrische Bäckereiverkäufer und türkische Kindergartenpädagoginnen sind längst unsere gemeinsame österreichische Normalität. (Olivera Stajić, 29.6.2024)