Keir Starmer
"Wir leben in den schwierigsten Verhältnissen seit langer Zeit." Keir Starmer will der britischen Bevölkerung keine Wunder versprechen.
Action Images via Reuters/Peter

In den jüngsten Umfragen ist der Wert für Labour ein wenig gefallen, generell geben sich die Briten von der Politik genervt und enttäuscht. Wenn die rund 48 Millionen Wahlberechtigten auf der Insel aber nicht millionenfach die Demoskopen belogen haben und am Donnerstag doch lieber die im Königreich tatsächlich antretende Monster Raving Loony Party wählen, wird Keir Starmer am Freitag in die Downing Street einziehen.

"Wenn wir zum Dienst gerufen werden!" – in keiner Rede des 61-Jährigen über die Vorhaben einer Labour-Regierung fehlt diese salvatorische Klausel. Und fast alles spricht dafür, dass Starmer sie ernst meint. Er sieht sich zum Dienst an seinem Land gerufen. Dass diese Herangehensweise im Kontrast steht zum selbstsüchtigen Tollhaus, mit dem die Konservativen in den vergangenen Jahren die Briten entsetzt haben, muss er nicht eigens sagen.

Sunak im Regen

Die Regierungspartei unter Premier Rishi Sunak setzt dieser Tage scheinbar alles daran, dem Wahlvolk deutlich zu machen, wie ideenlos und abgewirtschaftet sie ist. Mit dem Slogan, er habe anders als die Sozialdemokraten einen Plan für die Zukunft, stellte sich Sunak etwa bei der Wahlankündigung vor seinem Amtssitz in den strömenden Regen. Das verstärkte im Land der stets bei sich getragenen Regenschirme, vorsichtig gesagt, nicht gerade den Eindruck planmäßigen Handelns und wurde zum Internet-Meme. Dann schwänzte der millionenschwere frühere Hedgefondsmanager auch noch das Gedenk-Event zum 80. Jahrestag der Invasion in der Normandie – und verärgerte dadurch nachhaltig Millionen patriotisch gesinnter Briten.

Damit macht es der Amtsinhaber dem Herausforderer nachgerade leicht. Sunak profitiert vom britischen Mehrheitswahlrecht. Es zwingt die Menschen, jedenfalls jene in den heiß umstrittenen Wahlkreisen, ihre eigene Priorität hintanzustellen und die Frage zu beantworten: Welcher Chef der beiden großen Parteien soll Großbritannien in den kommenden fünf Jahren führen?

Schrill beschwört Sunak die Leute, sie dürften das Land "nicht der Labour-Party überantworten". Der dazugehörige Wahlspot zeigt eine Familie mit erhobenen Händen. Dabei mögen die Briten von Starmer zwar nicht begeistert sein – nur 30 Prozent finden ihn gut –, aber Angst jagt er ihnen auch nicht ein. Achselzuckender Tenor: "Schlechter als unter den Torys kann es eigentlich nicht werden."

Fehlende Theatralik

Zur Politik Großbritanniens gehören, viel stärker als auf dem Kontinent, rhetorische Eleganz, Leichtigkeit, der Hang zum Theatralischen. Politiker mit Entertainment-Faktor wie Boris Johnson werden belohnt – solange sie nur die Menschen zum Lachen bringen.

Dem ernsten, betont vorsichtigen Starmer scheint dies angesichts der Selbstzerfleischung der Torys zum Vorteil zu gereichen. Er verspricht wenig, jedenfalls deutlich weniger Veränderung, als sein Wahlslogan "Change" nahelegt. Keine Steuererhöhungen, aber mehr Geld fürs Gesundheitswesen, die Aufstockung der Streitkräfte, mehr Lehrerinnen und Polizisten – all dies würden die Briten auch von den Torys bekommen, jedenfalls wenn es nach den Programmen beider Parteien geht. Die etwas progressivere Klimapolitik, das vage Gerede von einer vorsichtigen Wiederannäherung an die EU – die linksliberale Intelligenz und die einschlägigen Lobbyisten rümpfen gern die Nase über Starmers vermeintlich übermäßige Vorsicht.

Keine Wunder zu erwarten

Der Chef und sein engstes Team lesen die Stimmung im Land anders. Der verbreiteten Verzagtheit über die wirtschaftliche Lage und dem Zynismus gegenüber Politikern dürfe man nicht mit schönen Versprechungen begegnen. "Wir leben in den schwierigsten Verhältnissen seit langer Zeit", predigt Starmer gern, von seiner Regierung seien keine Wunder zu erwarten. Viele "schöne Labour-Vorhaben" wie die Beseitigung der grassierenden Obdachlosigkeit oder billigeren Wohnraum für junge Leute werden sich, wenn überhaupt, erst nach einiger Zeit verwirklichen lassen.

Begeisterung wie einst vor Tony Blairs Erdrutschsieg 1997 oder in den beiden erfolglosen Wahlkämpfen seines Vorgängers Jeremy Corbyn lässt sich so natürlich nicht erzeugen. Dass Starmer dennoch an der Schwelle der Downing Street steht, spricht für sein politisches Fortune. Denn bei seiner Wahl zum Parteichef im Frühjahr 2020 erbte er eine denkbar schlechte Ausgangslage. Unter seinem Vorgänger Corbyn hatte sich die alte Arbeiterpartei eine schwere Niederlage eingefangen, im Unterhaus saßen so wenige Sozialdemokraten wie seit der Wahl 1935 nicht mehr.

Langweilig und rücksichtslos

Starmer übernahm das Ruder mitten in der Pandemie, der gerade von Covid genesene Premier Boris Johnson stand auf der Höhe seiner Beliebtheit. Beim Schlagabtausch im Unterhaus konnte der methodische Jurist dem dionysischen Rhetorik-Feuerwerk Johnsons selten das Wasser reichen. Als im Frühjahr 2021 die Nachwahl im nordenglischen Hartlepool verlorenging, war der Oppositionsführer offenbar drauf und dran, den Bettel hinzuschmeißen.

In den dieser Tage zuhauf erscheinenden Porträts der britischen Medien fehlt neben dem Wort "boring" (langweilig) nirgends ein zweites Vokabel: "ruthless", also je nach Kontext rücksichtslos oder sogar unbarmherzig. Letzteres gilt wohl auch im Umgang mit sich selbst. Beinahe empört reagiert Starmer auf die Frage, ob er in Therapie gewesen sei. "Ich habe genug Selbsterkenntnis, um mich nicht in Sackgassen mit Selbstgesprächen zu befassen", sagte er dem Guardian. "Sie mögen das merkwürdig finden, aber für mich ist es wichtig, einfach weiterzumachen."

Diesem Grundsatz getreu blieb Starmer nach der Hartlepool-Schlappe, und langsam veränderte sich die Lage. Infolge der enormen Staatshilfen während der Pandemie stieg die Inflation auf der Insel, zunehmend litt die britische Wirtschaft unter den Brexit-Folgen. Dann kam Partygate. Der einst übermächtige Premier Johnson wurde aus dem Amt gejagt, dem katastrophalen 49-Tage-Intermezzo von Liz Truss folgte Sunak.

Langer Atem

Mag sein, dass Starmer den langen Atem auf dem Fußballplatz gelernt hat. Von früher Jugend an vom runden Leder begeistert verschenkte der Provinzknabe sein Herz an den Nord-Londoner Prestigeclub Arsenal. Den Oppositionsführer sah man häufiger im neuen Arsenal-Stadion oder in einem nahen Pub zur Live-Übertragung. Als er kürzlich das "Woodbine" verließ, erhielt der eingefleischte Fan spontan Applaus von seinen Mittrinkern – und das in der Höhle des linken Gesinnungslöwen Corbyn.

Wenn vom Fußball die Rede ist, kommt Begeisterung auf. Dann berichtet Starmer von seiner Anbetung für die holländische Ikone Johann Cruyff und dessen "totalen Fußball" der 1970er-Jahre. Wie sein Idol ein Linksfüßler trainierte Starmer stundenlang Freistöße und Eckbälle. Bis heute trifft er sich regelmäßig mit Freunden zum Feierabendspiel auf Kunstrasen, beschreibt seine Position als "Mittelfeldspieler zwischen beiden Strafräumen" und schränkt dann schmunzelnd ein: "Meine Freunde sagen, so sei es vor 20 Jahren mal gewesen."

Damals schickte sich der erfolgreiche Menschenrechtsanwalt gerade an, Leiter der Staatsanwaltschaft von England und Wales zu werden. Erst seit 2015 gehört er als Abgeordneter für den innerstädtischen Wahlkreis Holborn und St. Pancras dem Unterhaus an, dessen Rituale und Traditionen ihm fremd geblieben sind. Der künftige Premierminister ist von treuen Freunden umgeben und ruht in seiner Familie. Dem Vernehmen nach sträubt sich Victoria Starmer, eine Anwältin im NHS, gegen den Umzug in die Downing Street, nicht zuletzt zum Schutz der beiden halbwüchsigen Kinder. Doch alles sieht danach aus, als würden ihnen die Briten diesen Dienst am Land abverlangen. (Sebastian Borger aus London, 30.6.2024)