Pehlivan kam zwischen 2009 und 2012 zu 17 Einsätzen im ÖFB-Team. Dem Sieger der Achtelfinalpartie Österreich vs. Türkei traut er zu, weit zu kommen, weil die möglichen Viertelfinalgegner Niederlande und Rumänien "schlagbar" seien. "Ich hätte es vor dem Turnierbeginn nicht gedacht, aber jetzt kann alles passieren." Sport sei generell "sehr wichtig", sagt er. Auch seine siebenjährige Tochter müsse Sport machen, "egal was". Er legt ihr Tennis ans Herz, sie bevorzuge aber Leichtathletik. "Das taugt ihr."
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Yasin Pehlivan drückt Österreich und der Türkei die Daumen. Der Sohn türkischer Migranten hat im Winter seine Profikarriere beendet, davor war der Mittelfeldspieler etwa auch bei Rapid, Salzburg (Meister und Cupsieger 2016) und einigen türkischen Klubs engagiert, von 2009 bis 2012 kam er einige Male im ÖFB-Team zum Einsatz. Als Kenner der Szene ist er prädestiniert, dem STANDARD vor dem Achtelfinale Österreich vs. Türkei eine Einschätzung zu geben, was für das ÖFB-Team spricht.

STANDARD: Wie intensiv verfolgen Sie die EM, und wie ist Ihr Eindruck?

Pehlivan: Ich habe mir bis jetzt fast alles angeschaut, 95 Prozent. Mich hat überrascht, dass die Topnationen eigentlich nicht so performen, wie ich es mir vorgestellt habe. Mannschaften wie Österreich, Rumänien, Slowenien und Georgien haben mich positiv überrascht.

STANDARD: Österreich ist als Gruppensieger ins Achtelfinale eingezogen. Viele sind ins Schwärmen geraten. Sie auch?

Pehlivan: Alles wurde schon vor Jahren auf den richtigen Weg gebracht. Und unter Ralf Rangnick ist das Team eine richtig gute und geile Einheit geworden. Es gibt keine Mbappés, aber sie halten zusammen und glauben an sich. Das macht im Fußball sehr viel aus. Es macht Spaß, ihnen zuzusehen. In der Türkei war man sehr überrascht, aber es war eigentlich vorherzusehen. Man hat gegen die Niederländer gesehen, dass es auch dann funktioniert, wenn drei wichtige Spieler, die auf der Bank sitzen, ersetzt werden.

STANDARD: Sehen Sie auch Schwächen?

Pehlivan: Das ganze Land ist in Euphorie, da müssen wir aufpassen. Es geht von Spiel zu Spiel, und es heißt konzentriert, fokussiert zu bleiben und die Leistung abzurufen, dann wird alles von alleine kommen. Schwächen sehe ich keine.

Yasin Pehlivan (Mitte) im Dress des SV Ziersdorf. Der Verein im Bezirk Hollabrunn (NÖ) spielt in der 1. Klasse Nordwest-Mitte und konnte im Winter einen prominenten Neuzugang vermelden.
Herbert Zimmermann / SV Ziersdorf

STANDARD: Der jungen Mannschaft der Türkei um Real-Madrid-Jungstar Arda Güler wird eine große Zukunft prophezeit. Stimmen Sie zu?

Pehlivan: Es ist die jüngste Mannschaft in der K.-o.-Phase. Alle sind bei großen Vereinen untergekommen. Im Fußball kann alles passieren, aber es schaut sehr gut aus für die Zukunft. Sie sind aber noch jung, brauchen noch Zeit, sind noch nicht so routiniert.

STANDARD: Welche Defizite würden Sie beim aktuellen Team der Türkei orten?

Pehlivan: Österreich ist Favorit, aber es kann alles passieren. Sie sind defensiv nicht so stabil. Ein Problem ist auch, dass Vincenzo Montella ohne Stürmer spielen lässt, ohne Stürmer ist es aber schwer. Es funktioniert noch nicht so perfekt wie bei den Österreichern. Außerdem waren die Medien sehr unzufrieden, wie Montella mit Güler umgegangen ist. Die Situation war sehr angespannt, und es rennt noch nicht rund. Und jetzt fehlen auch noch Spielmacher Hakan Çalhanoğlu und Innenverteidiger Samet Akaydin.

STANDARD: Wie sehr liegt den türkischen Spielern die 1:6-Schmach vom Testspiel in Wien noch im Magen?

Pehlivan: Die meisten Spieler haben in Interviews gesagt, dass sie das Spiel noch nicht vergessen haben. Sie wollten unbedingt Österreich im Achtelfinale haben. Ich kann sagen, dass sie sehr motiviert sind. Das 6:1 für Österreich war heftig.

26. März: Österreich feiert im Ernst-Happel-Stadion einen 6:1-Erfolg gegen die Türkei. Die Gäste waren letztlich ziemlich frustriert.
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STANDARD: Ist die Erwartungshaltung in der Türkei höher als in Österreich?

Pehlivan: In der Türkei geht’s nur um Fußball, jeder sitzt vor dem Fernseher. Sie wollen natürlich so weit wie möglich kommen.

STANDARD: Im Vergleich zu früher fällt auf, dass das ÖFB-Team mit einer anderen Mentalität auftritt, daran glaubt, große Nationen schlagen zu können. Ist das dem Einfluss der Red-Bull-Schule geschuldet, wo man technisch gut ausgebildet und mit dem nötigen Selbstvertrauen ausgestattet wird?

Pehlivan: Es hat sich viel geändert seit meiner Zeit. Es gibt viel mehr Auswahl an Spielern, fast alle sind im Ausland, viele spielen seit Jahren in Topligen, in der deutschen Bundesliga oder auch in Italien. Das ist natürlich ein Vorteil. Auch durch Red Bull hat sich viel im positiven Sinne geändert. Der Fußball ist sehr weit nach oben gekommen, es haben auch andere Vereine wie Sturm Graz oder der LASK profitiert, auch wenn sie einen anderen Weg gehen. Rangnick hat am Anfang in Salzburg etwas aufgebaut, und jetzt macht er beim Nationalteam weiter. Auch das ist ein Vorteil.

STANDARD: Sie wurden selbst 17-mal im ÖFB-Team eingesetzt. Gab es da ein persönliches Highlight?

Pehlivan: Alle Spiele waren besonders, das war immer ein geiles Gefühl, etwas, auf das ich stolz sein konnte und stolz war. Ich erinnere mich gerne daran.

STANDARD: Zu wem halten Sie als in Österreich geborener Sohn türkischer Eltern? Befinden Sie sich in einem Dilemma?

Pehlivan: Bei mir ist es 50:50. Ich bin türkisch aufgewachsen, bis ich 18 war. Meine Muttersprache ist Türkisch. Mein Herz schlägt natürlich für beide. Und ich hoffe natürlich, dass die bessere Mannschaft gewinnt. Aber positiv ist, dass eine Mannschaft im Viertelfinale dabei sein wird.

STANDARD: Sie sind nun beim SV Ziersdorf engagiert. Warum gerade bei diesem siebtklassigen Verein?

Pehlivan: Ich hatte einen Vertrag in der Türkei, wollte bei İskenderunspor noch weiterspielen, aber das war leider nicht mehr möglich. Meine Tochter geht in Wien in die Schule, und wir waren die vergangenen zwei Jahre getrennt. Es war eine harte Zeit, und es ist genau die Zeit, in der mich meine Tochter braucht. Ich wollte unbedingt wieder zurück und habe den Vertrag aufgelöst. Es haben sich dann viele Vereine bei mir gemeldet, auch von weiter oben, am Ende habe ich mich für Ziersdorf entschieden, weil ich dabei das beste Gefühl hatte. Da ist alles so familiär, das taugt mir. Es geht ja nicht mehr um Geld.

STANDARD: Ziehen Sie eine Trainerausbildung in Erwägung?

Pehlivan: Ich bin gerade dabei zu planen. Es ist eine schwere Zeit nach dem Fußball, das hätte ich mir leichter vorgestellt. Es beginnt ein neues Leben. Natürlich habe ich vor, in irgendeiner Form dem Fußball erhalten zu bleiben, aber ich muss schauen, in welcher Rolle. Viele sagen mir, dass ich unbedingt Trainer werden soll, weil ich ein Riesenpotenzial habe. Spielerberater zu sein finde ich auch cool, weil es wichtig ist, Spieler richtig zu beraten. Ich habe in meiner Karriere auch Berater gesehen, die nur hinter dem Geld her sind. (Thomas Hirner, 30.6.2024)