Donald Trump (links) und Joe Biden (rechts) auf einem Fernsehbildschirm. Davor ein Mann mit Cowboyhut von hinten, ganz links eine US-Flagge.
Die TV-Debatte gegen Donald Trump (links) wurde für Joe Biden (rechts) zum Debakel.
AP/Ross D. Franklin

Die vermutlich längsten 90 Minuten seines politischen Lebens waren endlich vorbei, als Joe Biden kurz vor Mitternacht am amerikanischen Donnerstagabend bei einer Watch-Party der Demokraten in Atlanta auftauchte. Unzählige Handys wurden hochgereckt. "Four more years!", (Vier weitere Jahre) skandierte die Menge. Für einen Augenblick schien die Welt noch in Ordnung zu sein.

Dann ergriff Bidens Frau Jill das Wort: "Joe, Du hast so einen tollen Job gemacht", schwärmte sie und setzte hinzu: "Du hast jede Frage beantwortet." Es sollte ein verstärkendes Lob sein. Aber unfreiwillig verdeutlichte die aufmunternde Bemerkung der gelernten Lehrerin das bedrückende Ausmaß des Desasters.

Anderswo schlugen sie zu dieser Zeit schon die Hände über dem Kopf zusammen über einen desaströsen Auftritt des Präsidenten, der im ersten TV-Duell des Wahlkampfs von seinem Kontrahenten Donald Trump regelrecht niedergewalzt worden war. Der 81-Jährige wirkte während der Debatte wächsern und apathisch. Er nuschelte und verhaspelte sich. Und er schaffte es nicht einmal, seine wenigen in den Tagen zuvor auf dem Landgut Camp David mühsam einstudierten Kernbotschaften unfallfrei herüberzubringen.

"Kein guter Abend"

"Es gibt keine Zweifel: Das war kein guter Abend für Joe Biden", urteilte seine langjährige loyale Ex-Kommunikationsdirektorin Kate Bedingfield nüchtern. Während die Experten bei den großen US-Fernsehsendern spürbar geschockt nach Erklärungen suchten, gingen die Menschen von der Biden-Kampagne im sogenannten Spin-Room des Senders CNN, wo namhafte Vertreter beider Parteien versuchen, den Journalisten ihre Sichtweise nahezubringen, zunächst auf Tauchstation. Während sich überall bestgelaunte Republikaner zeigten, dauerte es eine Viertelstunde bis zur Ankunft der ersten prominenten Demokraten.

Deren Parole war klar: Nach außen müssen die Reihen geschlossen werden. "Ich werde mich nie von Präsident Biden abwenden", erklärte der kalifornische Gouverneur Gavin Newsom: "Und ich kenne keinen Demokraten, der das machen würde – besonders nach diesem Abend." Der Präsident habe vier Jahre lang gezeigt, dass er seinen Job beherrschte, argumentierte Vizepräsidentin Kamala Harris: Heute habe er "einen langsamen Start" gehabt, räumte sie ein: "Aber dann gab es ein starkes Finale."

Hinter den Kulissen aber wächst die Unruhe. Wahlkämpfer, Mandatsträger und Großspender der Demokratischen Partei sehen die Chancen auf einen Wahlsieg im November dramatisch schwinden. Seit Wochen liefern sich Donald Trump und Joe Biden in den Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Doch der Republikaner lag in den entscheidenden sechs Swing-States schon bisher vorn. Ein Fünftel der Wähler, die 2020 für Biden gestimmt haben, sind noch unentschlossen. Viele machen sich Sorgen wegen des Alters des Präsidenten. Diese Gruppe wollte Biden überzeugen, als er auf ein frühes TV-Duell drängte, das zugleich die gewaltigen Defizite des Kontrahenten offenlegen sollte. Herausgekommen ist das Gegenteil.

Blitzumfrage lässt keine Zweifel

Selbst für die Republikaner kommt diese Entwicklung überraschend. Deren Kandidat Trump hatte sich in der Öffentlichkeit zunächst gebrüstet, er werde den Tattergreis Biden von der Bühne fegen. Dann stapelte er plötzlich demonstrativ tief: "Ich werde Biden niemals unterschätzen." Seine Unterstützer – allen voran sein Sohn Donald Junior – verbreiteten in den Onlinemedien und beim rechten Sender Fox News in den Stunden vor dem Duell aggressiv die Verschwörungslüge, Biden werde von den Ärzten mit Drogen vollgepumpt und aufgeputscht. Außerdem habe der Sender CNN ihm vorher die Fragen zugesteckt. Das alles sollte den erwarteten Sieg von Biden erklären.

Nun führte der Sender CNN noch in der Nacht eine Blitzumfrage durch. 67 Prozent der Befragten erklärten, Trump habe das Duell gewonnen. Gerade einmal 33 Prozent fanden Biden überzeugender. Jedenfalls behaupteten sie das tapfer.

Wie es wirklich steht um die Stimmung bei den Demokraten, konnte man am Freitagmorgen bei Morning, Joe, dem Frühstücksfernsehen des linken Senders MSNBC beobachten. Nach Berichten amerikanischer Medien schaut sich Biden die Sendung öfter an. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit kann er dann beim Moderatoren-Ehepaar Mika Brzezinski und Joe Scarborough ein politisches Wohlfühlbad genießen.

"Niemand ist in Panik", betonte Scarborough am Freitag denn auch demonstrativ. Doch dann sprach er offen über einen Rückzug des Präsidenten: "Das Fenster schließt sich sehr schnell." Wenn Joe Biden seine Kampagne nicht fortsetzen könne, "dann muss das schnell gelöst werden". "Mal langsam", hielt Brzezinski dagegen, wohl auch, um das liberale Publikum emotional nicht zu überfordern: "Wir sollten ausgeglichen sein." Donald Trump habe sich in mehr als 1000 Tagen im Amt als komplett ungeeignet erwiesen – "Joe Biden hatte eine furchtbare Nacht". Es klang wie das verzweifelte Pfeifen im Wald.

Spekulationen über Plan B

Tatsächlich wird in der zweiten Reihe der Demokraten nun fieberhaft über einen Plan B spekuliert. "Biden wirkte desorientiert", gestand der ehemalige Obama-Berater David Axelrod offen ein: "Die Demokraten beginnen darüber zu diskutieren, ob er weitermachen soll." Und Ben Rhodes, ein anderer Ex-Obama-Vertrauter, schrieb bei X: "Den Leuten zu erzählen, sie hätten nicht gesehen, was sie gesehen haben, ist nicht die richtige Reaktion darauf."

Eigentlich ist die Kandidatenfrage bei den Demokraten längst entschieden. Joe Biden hat sich bei den Vorwahlen mehr als 90 Prozent der 4000 Delegiertenstimmen gesichert. Doch die Debatte fand ungewöhnlich früh statt. Noch hat der für Mitte August in Chicago terminierte Parteitag nicht offiziell entschieden. Theoretisch gäbe es mit Harris, Newsom, Verkehrsminister Pete Buttigieg oder der Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer, andere Kandidatinnen und Kandidaten. Unter Berücksichtigung der Meldefristen bleiben für ein solches Manöver noch 40 Tage Zeit. Doch jede denkbare Alternative hat mindestens einen persönlichen Haken. Und landesweit bekannt sind die meisten nicht.

Vor allem würde eine derart beispiellose Rochade nur funktionieren, wenn Joe Biden sie selbst anstößt. Bislang macht der 81-Jährige aber keine Anstalten, sich zurückzuziehen. Seit langem hat er sich mit einem loyalen, engen Beraterkreis mehr oder weniger eingegraben. Auf unliebsame Kritik kann er ungehalten reagieren. Biden hält sich zugute, dass er Trump als einziger Demokrat schon einmal geschlagen hat. Die dramatischen persönlichen Schicksalsschläge in seiner Familie haben ihn resilient gemacht.

Biden weist Rückzug zurück

"Ich denke, wir haben das gut gemacht", erklärte der Präsident ernsthaft, als er am Donnerstagabend das CNN-Studio verließ. Allenfalls eine Halsentzündung habe ihn ein bisschen gehemmt. Die Frage nach einem möglichen Rückzug wies er entschieden zurück.

Am Abend reagierte Biden bei einer Wahlkampfveranstaltung etwas ausführlicher auf die Diskussionen über seine Performance. "Ich weiß, dass ich kein junger Mann mehr bin", gestand er ein. Er debattiere nicht mehr so gut wie früher, wisse aber, wie man die Wahrheit sagt und was richtig und was falsch ist. "Ich würde nicht erneut kandidieren, wenn ich nicht von ganzem Herzen und mit ganzer Seele daran glauben würde, dass ich diesen Job machen kann." Am Freitag betonte ein Kampagnensprecher von Biden, dass es keine Gespräche über einen möglichen Rückzug von Bidens Kandidatur gebe. Biden plane, an der zweiten TV-Debatte im September gegen den Trump erneut teilzunehmen.

Zuvor, bei der Watch-Party vor seinen Anhängern, rief Biden in den Saal: "Wir werden diesen Kerl besiegen." Zur Untermauerung seiner These zitierte er einen unbekannten Western mit John Wayne, der schon 1979 verstorben ist. Darin spielt der Darsteller den Anführer eines aufständischen Apachen-Stammes. Biden nannte sie "Indianer" – ein rassistisch konnotierter, politisch umstrittener Begriff. Aber das war an diesem katastrophalen Abend dann auch schon egal. (Karl Doemens aus Washington, 28.6.2024)